Do. Mai 2nd, 2024

In Sibirien leben rund 10.000 Mennoniten

Ein mennonitischer Chor. Mittendrin Katharina Liebert (5. v.l.)©Katharina LiebertEin mennonitischer Chor. Mittendrin Katharina Liebert (5. v.l.) ©Katharina LiebertEin mennonitischer Chor. Mittendrin Katharina Liebert (5. v.l.)©Katharina Liebert

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Katharina Liebert hält einen Vortrag über Plautdietsche in Sibirien

Foto: Ein mennonitischer Chor. Mittendrin Katharina Liebert (5. v.l.) ©Katharina Liebert

“Mennoniten in Sibirien” – unter diesem Titel präsentierte Katharina Liebert, bis vor Kurzem wissenschaftliche Plautdietsch-Forscherin in Sibirien, bei der Jahresveranstaltung der Plautdietsch-Freunde einen spannenden Vortrag.

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Die einzigen Universitäten auf der ganzen Welt, die Plautdietsch-Forschung betrieben, befanden sich in Sibirien. 1899 gründeten sich die ersten mennoniten Dörfer in Sibirien, zuerst in Omsk, dann ab 1907 im Altai. Später kamen noch viele Mennoniten nach Sibirien, die nicht freiwillig hinzogen – nach der kommunistischen Revolution und nach dem 2. Weltkrieg.

Schon in den schweren Zeiten fingen die ersten Wissenschaftler an, das Plautdietsche in Sibirien zu erforschen: Viktor Schirmunski, Hugo Jedig, Nina Berendt, Igor Kanakin, Ivan Avdejev, Margarita Wall etc. Jetzt hat Katharina Liebert als letzte die Uni in Omsk verlassen und ist nach Deutschland gekommen. Hier eine Skizze über ihre Forschung.

Mennoniten in Sibirien

skizziert von Katharina Liebert

  1. Wann und wie erschienen die Mennoniten in Sibirien?

Im 18. Jahrhundert folgten viele Mennoniten der Einladung Katharinas II nach Russland. Es entstanden mehrere niederdeutsche Kolonien im Russischen Reich, zunächst in der Schwarzmeerregion. Es kam unter anderem zur Besiedlung Sibiriens in drei Wellen:

  1. Die erste Welle kam Ende des 19. Jahrhunderts hierher, vor allem in die Gebiete Omsk und Altai. Die ersten Siedlungen entstanden in den 1890er Jahren. Die Einwanderung war freiwillig, die Mennoniten kamen hierher auf der Suche nach Land und Freiheit. Zunächst handelte es sich um kleine Gutshöfe, die später vergrößert wurden. In jedem Dorf, in dem Mennoniten lebten, baute man in erster Linie eine Schule und ein Bethaus.
  2. Die zweite Welle entsteht in den 20er Jahren, als nach der Oktoberrevolution Tausende Mennoniten entkulakisiert und nach Sibirien ausgesiedelt wurden. (Entkulakisierung, раскулачивание – Enteignung und Verbannung wohlhabender Bauern nach Sibirien).

In der Zeitperiode der 20er–40er Jahre wurden Hunderttausende von Menschen – sowohl Männer als auch Frauen – in Arbeitslager deportiert oder erschossen.

  1. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die meisten Mennoniten Russlands in den Westen zu flüchten, wurden jedoch von Stalin und den anderen Alliierten nach Sibirien deportiert. In einigen Siedlungen werden heute Denkmäler für die Opfer der damaligen Repressionen errichtet.

Als die Kommandantur (der Zwangsaufenthalt am Deportationsort) 1956 aufgehoben wurde, wanderten viele Mennoniten wieder aus Sibirien aus, vor allem nach Kasachstan, aber auch in andere Sowjetrepubliken, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die meisten nach Deutschland.

  1. An welchen Orten in Sibirien gab es mennonitische Siedlungen, und wo gibt es noch heute welche?

Das sind vor allem das Gebiet Altai und der Bezirk Omsk. Jetzt sind das die deutschen Nationalbezirke, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts geschaffen wurden. Doch auch außerhalb der deutschen Bezirke, in anderen Regionen, zum Beispiel in Richtung Kasachstan und im Bezirk Nowosibirsk, gibt es noch Orte, an denen Mennoniten leben.

Auf diese Frage kann ich leider keine umfassende Antwort geben. Die Dörfer Sibiriens, in denen Mennoniten leben, sind zumeist heterogen. Zur Zeit haben wir keine Karte, die uns alle Siedlungen zeigen würde, wo und wie viele Mennoniten noch leben, wo noch Plautdietsch gesprochen wird und wie viele Plautdietschsprechende es in jeder Siedlung gibt. So eine Karte benötigen wir sehr. Ich kann auf meine Erfahrung als Feldlinguistin zurückgreifen. In den letzten 10 Jahren unternahm ich acht Reisen zu den Orten, an denen Mennoniten in Sibirien leben, aber auch Deutsche, die noch verschiedene hochdeutsche Varietäten sprechen.

10.000 Mennoniten leben in Sibirien

Ich schätze vorsichtig, dass heute etwa 10 000 Mennoniten als Nachfahren der genannten drei Besiedlungswellen in Sibirien leben. Die meisten leben immer noch im Gebiet Omsk, wo es also seit 125 Jahren niederdeutsche Siedlungen gibt.

Repräsentativ für das Gebiet Omsk sind z. B. die Dörfer Miroljubowka, Solnzewka u. a.;

im Nowosibirsker Gebiet das Dorf Neudatschino;

für das Altai-Gebiet Polewoje, Protassowo, Orlowo und einige weitere;

an der Grenze zu Kasachstan sehr viele Siedlungen, die größte ist wohl Apollonowka (mit mehr als 1000 Plautdietschsprechenden).

Auch daran sind sie zu erkennen, die Mennoniten. ©Katharina Liebert
Auch daran sind sie zu erkennen, die Mennoniten. ©Katharina Liebert

Mennonitische Dörfer werden allmählich “katholisch”

Es sind aber auch sehr viele Dörfer, die allgemein als ‘deutsch‘ bezeichnet werden, in denen Mennoniten neben anderen Bevölkerungsgruppen leben (Russen, Ukrainern, Kasachen), auch mit Hochdeutschen (von denen nur wenige ihre deutschen Dialekte noch sprechen). Viele Siedlungen wurden einst von Mennoniten gegründet, doch nach und nach von anderen deutschen Kolonisten besiedelt, so z. B. das Dorf Schumanowka im deutschen Nationalkreis Altai. Es wurde 1911 von Mennoniten aus dem Schwarzmeergebiet und auch aus Orenburg gegründet. Nach der Revolution wurden hier Arbeitskommunen (рабочие артели) und dann eine Kolchose gegründet. Im Jahre 1941 wurden Deportierte aus dem Wolgagebiet hierhergebracht. Nach dem 2. Weltkrieg konsolidierten sich die Kollektivwirtschaften. Es kam zum Zusammenschluss kleiner Dörfer zu größeren. Als Folge davon wurden die Bewohner anderer deutscher Dörfer, unter anderem auch katholischer, nach Schumanowka umgesiedelt. Mit der Zeit wanderten immer mehr Plautdietsche aus dem Dorf aus. Als ich 2020 dort war, konnte ich nur noch eine einzige Plautdietsch sprechende Frau finden. Die anderen Bewohner sind oft der Meinung, dass Schumanowka von Anfang an ein katholisches Dorf gewesen sei, in dem man schon immer kelnisch (?) sprach (so nennt man hier oft verschiedene Mundarten oberdeutschen Typs).

Das heutige Bild, wo noch Mennoniten leben und Plautdietsch sprechen, ist bunt und heterogen. Es sind

  • Dörfer, in denen nur einzelne Plautdietsche leben (Degtjarka, Kussak u. a. im Altai).
  • Dörfer mit 150 – 300 Mennoniten (Protassowo im Altai, Neudatschino im Nowosibirsker Gebiet). Die Plautdietschen leben in einem Dorf mit anderen Bevölkerungsgruppen, sie bewahren sowohl ihren Glauben, als auch die plautdietsche Sprache. Die alltägliche Kommunikation geht auf Russisch und auf Plautdietsch.
  • Dörfer, deren Bewohner überwiegend Mennoniten sind. Es wird in diesen Siedlungen nur Plautdietsch gesprochen. Kulturelle und religiöse Lebensweise werden hier sehr gut erhalten (Apollonowka).
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  1. Selbstidentität

Die Mennoniten in Sibirien werden von den anderen Bevölkerungsgruppen, von der staatlichen und regionalen Regierung und auch von den meisten Forschern als Deutsche wahrgenommen. Das stimmt häufig nicht damit überein, wie die Mennoniten sich selbst identifizieren. Man findet folgende Selbstbezeichnungen: Mennoniten, deutsche Mennoniten, Plautdietsche, Baptisten, Holländer.

Mennonitisches Andachtshaus. ©Katharina Liebert
Mennonitisches Andachtshaus. ©Katharina Liebert

In ihrer Geschichte erzählt Lisa Steffen, dass es mennonitische Bauern und mennonitische “Meister”, also Handwerker, gibt. Ihr Vater, Abram Steffen, war ein echter Meister. Er stellte Uhren her, von denen viele heute Türme in sibirischen Städten schmücken. Darüber hinaus führte dieser Mann mehrere Jahrzehnte lang (von den 50er Jahren bis in die frühen 2000er Jahre) ein Tagebuch, in dem er festhielt, was mit ihm und im Land geschah. Die Tagebücher werden in seinem Haus aufbewahrt, das nach Abram Steffens Tod als Museum dient.

Steffens-Museum. ©Katharina Liebert
Steffens-Museum. ©Katharina Liebert
  1. Sprachvarietäten

Plautdietsch ist in Sibirien keine Schriftsprache. Da es keine einheitliche Standardnorm gibt, können Einheiten der verschiedenen Sprachebenen Varianten aufweisen.

Eine Instabilität tritt bei der Beurteilung der Sprache auf. Plautdietsch bezeichnet man sowohl als „deutsche Mundart“, „besondere preußisch-niederdeutsche Varietät’, oder als eine Sondersprache.

Die Sprache der Mennoniten in Sibirien (in den verschiedenen Siedlungen) weist vor allem Anzeichen des Molotschna-Typs auf.

Diese Sprache zeichnet sich in Sibirien durch große Variabilität aus, vor allem phonetisch, und zwar in erster Linie im Bereich der Vokale.

  • Vokale:

ɔ / u / ɔu: ʃlɔpə / ʃlɔupə ‘schlafen’, kɔmə / kɔumə ‘kommen’, gɔnə / gunə ‘gehen’;

ɔ / u / ᴧ: vɔta / vu:ta / vta ‘Wasser’;

i / ɛ: i:tə / ɛtə ‘есть’, tinja / tenja / kinja ‘дети

  • Konsonanten:

k’ / t’ / st’

d’ / g’ bred’ / breg’

g / ɣ: froagə / froaɣə

Die Varianten werden gleichzeitig und austauschbar verwendet. Ein wichtiges Kriterium für die Anerkennung von Variabilität ist, dass beide Varianten (z. B. eines Lautes oder eines Wortes) von den Sprechern als richtig, als akzeptabel anerkannt werden.

  1. Wie kann man Plautdietsch in Sibirien unterstützen?

In den Dörfern, in denen es nicht viele Muttersprachler gibt, wird die Sprache langsam durch Russisch ersetzt, was sehr traurig ist. Um solche Minderheitensprachen vor dem Aussterben zu retten, kennt die Linguistik viele Möglichkeiten. Mein Ziel war es immer, die deutschen Varietäten Sibiriens nicht nur zu dokumentieren und zu beschreiben, sondern auch mögliche Methoden des Revitalisierens des Plautdietschen zu entwickeln.

Kinder lernen spielerisch Plautdietsch. ©Katharina Liebert
Kinder lernen spielerisch Plautdietsch. ©Katharina Liebert

Kinderklub in Neudatschino – Plautdietsch auf spielerische Weise

Im Jahr 2018 habe ich die Gründung eines Kinderklubs an der Schule in Neudatschino initiiert. Hier lernen die Kinder auf spielerische Weise Plautdietsch. Den Unterricht erteilt eine Muttersprachlerin, eine junge Frau mit pädagogischer Ausbildung.

Die Gründung des Klubs wurde vom Internationalen Verband der deutschen Kultur unterstützt. Der Unterricht wird nicht nur von Kindern aus mennonitischen Familien besucht (in diesen Familien wird inzwischen oft Russisch gesprochen, so dass Plautdietsch in Vergessenheit gerät), sondern auch von russischen Kindern, die sich für die mennonitische Sprache interessieren.

Pfingstveranstaltung mit Kindern. ©Katharina Liebert
Pfingstveranstaltung mit Kindern. ©Katharina Liebert

In größeren Siedlungen gibt es oft “Sonntagsschulen”

Gruppen für Kinder unterschiedlichen Alters in Bethäusern, in denen sie Lieder und Gedichte lernen, Stücke inszenieren und sich auf die christlichen Feiertage vorbereiten. All dies geschieht in der Muttersprache, so dass keine Sprachförderung erforderlich ist.

Aber an den Orten, an denen die Sprache schwindet, es jedoch noch Familien gibt, die sie ihren Kindern vermitteln wollen, kann eine solche Initiative wie in Neudatschino sehr nützlich sein.

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