Foto: Viktor Martens sitzt an einem Tisch vor einer Gartenlandschaft und erzählt Anekdoten aus seinem spannenden Leben. © Thomas Schmidt_iconworx
von Horst Martens (Text) und Thomas Schmidt (Fotos)
Viktor Martens hat ein abwechslungsreiches Leben hinter sich. Vor Kurzem ist er gestorben – 96 Jahre ist er nach unserer Rechnung alt geworden. Es lohnt sich, die blendende Karriere dieses Mannes zu erzählen, die er als mittelloser Schlucker startete. „Dreck und Schweiß“ lernte Victor Martens in einer Zuckerrohr-Fabrik kennen, dann wurde er Nachtbestatter, Hotel-Telefonist, Schiffsfunker und zum Schluss erfolgreicher Verkaufsleiter eines weltweit agierenden Auto-Konzerns.
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Fotograf Thomas Schmidt und ich haben ihn 2009 bei unserer Paraguay-Tour kennen gelernt. Damals entstand diese Reportage.
Victor Martens hat zehntausende Volkswagen verkauft. Aber schon vor seiner Karriere beim deutschen Autobauer hatte er ein verrücktes Leben hinter sich. Der erfolgreiche Außenhandelskaufmann kam aus der Tiefe des südamerikanischen Raumes von ganz unten, machte skurrile Erfahrungen in exotischen Branchen, um schließlich bei einer von Deutschlands Top-Marken zu landen. Und zum Schluss kehrte er wieder zurück zu seinen Wurzeln.
Vor seiner Haustür in einem gutsituierten Wohnviertel der paraguayischen Hauptstadt Asunción steht kein Volkswagen, sondern eine andere, unbedeutende Marke. Die Episode als erfolgreicher Verkäufer in einem Autokonzern scheint der mobile Rentner, 82 (wie gesagt: 2009), definitiv abgeschlossen zu haben. Oder er hat hier noch keinen begabten Verkäufer gefunden – der ihm ein VW-Modell schmackhaft gemacht hat. Martens führt uns durch sein altdeutsch und dunkel wirkendes Wohnzimmer hinaus in seinen Garten, das von gigantischen Palmen, Tropenpflanzen mit großen Blättern und einem perfekt geschnittenen Rasen beherrscht wird. Über den subtropischen Garten spannt sich ein kobaltblauer Himmel. Während er seine Geschichte erzählt, wirkt er so rastlos wie seine Vita – er eröffnet immer wieder neue Szenarien, blendet vor und zurück, macht häufige Abstecher zu Neben-Schauplätzen, um dann schließlich zum Haupt-Erzählstrang zurück zu kehren. Als er schließlich am Ende ankommt, sagt er, von sich selbst überrascht: „Ich bin erstaunt, dass ich diesen Weg gegangen bin.“
Eine Gegend aus Busch und Steppe
1930 wanderte seine Familie mit mennonitischen Immigranten in den paraguayischen Chaco aus – eine Gegend aus Dornbusch und Steppe, in der die Sonne erbarmungslos niederknallt. Der Vater war Molkereifachmann, ein Beruf, der bei den Pionieren damals wenig nachgefragt war. Also zog man um in die Hauptstadt Asunción. Als Sekretär im „Colegio Alemán“, der deutschen Schule, hielt der Vater die Familie in den 30-er Jahren über Wasser. Mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs verlor der „Secretario“ seinen Job, da die deutschen Einrichtungen und ihre Mitarbeiter unter dem Druck der USA alle unter Generalverdacht gerieten.
Für die Schule fehlte nun Geld. Da wurde der 15-jährige Filius zu einer Lehre in eine Zuckerfabrik im Dschungel Ostparaguays geschickt. Noch heute kann Victor den gesamten Prozess des Zuckerherstellens hersagen. „Die Arbeit hat mir in meinem Leben geholfen. Ich habe Dreck und Schweiß kennen gelernt.“ Kennen gelernt hat er auch den Zuckerbaron, der in Wirklichkeit ein Pleitier war. Die Fabrik war so hoch verschuldet, dass auf das süße Genussmittel ein Embargo gelegt wurde. Der Lehrbub musste sich am Morgen den Zucker klauen, um seinen geliebten „Mate cocido“ (Mate-Tee) zu trinken.
Arm, aber familiär ging es in seiner „Pension“ zu: Er wohnte bei einem Mann, der mit einer Indianerin verheiratet war. Als die Frau zum ersten Mal den Guiso (typischer Eintopf) servierte, starrte der junge Gringo unter dem Apfelsinenbaum die Ureinwohnerin mit offenem Mund an: Sie war oben ohne. „Für den Guiso hatte ich hingegen keine Augen.“ Als er viele Jahre später in Madrid die Einweihung von Volkswagen VAG España mit den Konzern-Granden in einem Fünf-Sterne-Hotel feierte, da musste er – als das üppige Mahl aufgefahren wurde – an den Guiso im Busch denken. Die Bedienung enttäuschte – sie servierte „oben mit“.
Das Boot des Schmugglers
Es war November 1938, Victor Martens war 17 Jahre alt und hatte von Geldnot und Kärglichkeit die Schnauze voll. Mit dem Geld, das er für sein altes Fahrrad bekam, kaufte er sich ein Zugticket bis Encarnación im Süden des Landes. Am Flussufer gegenüber lag das Gelobte Land, Argentina. „Der Schmuggler, der schließlich bereit war, mich auf die andere Seite zu bringen, wollte mir zehn Mark abknöpfen. Ich gab aber nur fünf. Dafür musste ich dann selbst rudern.“ Es dauerte lange, bis das rettende Ufer erreicht war.
Sein großes Ziel aber war Buenos Aires, die Weltstadt. „Ich hatte einen Seemannssack, eine Jacke, ein Mückennetz, ein paar Hosen und eine Adresse von Deutschen aus Buenos Aires.“ Er machte sich zu Fuß auf den 1.000 km langen, strapaziösen Weg. Was mühsamer wurde, als gedacht, denn die Argentinos hatten ihm die falsche Straße gezeigt: Es handelte sich um die Eisenbahntrasse.
Dennoch von Verzweiflung keine Spur: „Ich fühlte mich wie Jack London, den ich in meiner Kindheit verschlungen hatte.“ Es war November, der Winter hatte eingesetzt und damit die Trockenheit. „Ich fror und hatte kein Wasser mehr.“ In einem ausgetrocknetem Weiher entdeckte Martens in den tiefen Hufspuren der Rinder Wasser. „Ich steckte einen Grashalm hinein und saugte die brackige Flüssigkeit gierig auf.“ So entstand die Rede vom ‚Victor-Martens-Cocktail‘.
Heiße Nächte im Patio
Aber schließlich kam er nach mehreren Wochen in Buenos Aires an, etwas derangiert, aber unversehrt an Leib und Seele. Die Bekannten hießen ihn herzlich willkommen. Weil sie selbst nur ein Zimmer hatten, schlief er draußen und verbrachte „heiße Nächte im Patio“.
In Buenos Aires war der zielstrebige junge Mann zeitgleich in mehreren Jobs tätig. In Argentiniens Hauptstadt ist das selbst heute noch keine Seltenheit. So machte er zum Beispiel den Nachtdienst für ein Bestattungsinstitut. An seinem Bett standen drei Telefone. An Durchschlafen war nicht zu denken. Gleichzeitig half er seinem Gastgeber, der Dachstuhl-Zimmermann war. Für einen lukrativen Auftrag stellte er zwei neue Einwanderer aus Deutschland ein, Weltkriegsflüchtlinge wie so viele. Ihr Vorleben interessierte nicht. Einer war Arzt, nannte sich Dr. Gerhard. Victor ließ sich von ihm eine Frostbeule behandeln. Als später in Zeitungsberichten das Bild des Arztes auftauchte, merkte Martens, dass er Mengele, dem Auschwitz-Mörder, begegnet war. „Ich bekam nachträglich eine Gänsehaut.“
In einem kleinen Hotel fing er als Telefonist an. Die Chefin bot ihm den Job eines Verwalters an. Im Hauptberuf war die auffällig geschminkte Frau Geliebte eines reichen Industriellen, der sich ihr gegenüber erkenntlich gezeigt hatte, indem er ihr die Herberge schenkte. Da sie weder lesen noch schreiben konnte, brauchte sie nun jemand, der ihr die Buchhaltung abnahm. „Doch das Geld, das ich verdiente, reichte nicht für zwei Mahlzeiten. Ein halbes Jahr lang habe ich von ;Café con leche‘ und ‚media luna‘ gelebt. Ich wog 62 Kilogramm.“
In dem Hotel verkehrte ein französischer Pilot, der von seinem Beruf schwärmte. „Nun wollte ich Pilot werden, aber dann erfuhr ich, dass es für Nicht-Argentinier nicht möglich war.“ Der Franzose wartete mit einem Vorschlag auf: „Viktor, du musst Telegrafist werden. Dann hast du ausgesorgt.“
Schilda in Argentinien
Zwei Jahre lang büffelte Victor Martens in der Abendschule für das Funker-Patent, um zu erfahren: Argentinien hat überhaupt keine zivile Luftfahrt. Schilda lässt grüßen. Also machte er eine Zusatzausbildung als See-Funker: „Argentinien besaß eine große zivile Schiffsflotte“, darüber hatte sich Martens informiert, nochmal wollte er sich nicht herein legen lassen.
Auf einem Passagierschiff für 300 Personen heuerte er an: „Ich musste mir eine weiße Uniform schneidern lassen. Darin sah ich aus wie ein Marineoffizier.“ „Sein“ schönste Dampfer war die „Arosa Star“, die nach Europa und USA verkehrte. Von der amerikanischen Küstenwache gejagt, wurde sie 1957 in den Bermudas wegen überhöhter Schulden des Reeders an die Kette gelegt – die Passagierschifffahrt lag in den letzten Zügen.
Victor Martens war schon zuvor in Hamburg-Altona von Bord gegangen, um endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu kriegen. Nach ersten Erfahrungen als Verkäufer in einem Elektro-Handel stieg er 1961 in einer Exportfirma ein, die Rundfunkgeräte nach Südamerika exportierte. In den Jahren, als der Export expandierte, war er hier herzlich willkommen: „Ausschlaggebend für meinen Job in Deutschland waren meine Spanisch- und meine Schreibmaschinenkenntnisse.“
Die kleine Elektrofirma war noch lange nicht das Ende der Fahnenstange, dafür war Martens zu strebsam und zu unermüdlich. Den Steigbügel für eine blendende Karriere ergriff er 1962, als er bei Auto Union anfing. „Ich konnte Spanisch und hatte jetzt auch noch die kaufmännische Entwicklung von Exporten gelernt.“ Damit wurde er Leiter der Export-Abteilung CKD (Completely Knocked Down – Fahrzeug wird für den Export komplett zerlegt). Als Daimler-Benz die Auto Union 1964 an VW verkaufte, wurde Martens übernommen, während die Verkaufsabteilung von Auto Union aufgelöst wurde.
Die „Export-Abteilung“ von Volkswagen brauchte 1966 für Spanien, Mittel- und Südamerika jemand, der Spanisch spricht. Und es war auch ein Job für einen extrem kontaktfreudigen und äußerst agilen Menschen wie Martens. Der Südamerika-Verkäufer wurde wenig später zum „Gebietsleiter Export“ für Südasien befördert. „Während meiner Zeit wurden 26.000 Autos nach Japan exportiert“, sagt er stolz. Die Japaner trugen den Exportleiter auf Händen – fünf Jahre lang.
Quattro für den König
Dann richtete VW eine Verkaufsniederlassung in Spanien ein. Und – wie immer wenn es um „Spanisch“ und „Verkaufen“ ging, wurde nach Martens gerufen. Als „Directór de Coordinación“ steuerte er den Aufbau von „Volkswagen VAG España“, die bald 32 niedergelassene Händler zählte. Eigenhändig verkaufte er Juan Carlos einen Audi Quattro. Der König setzte ihn bei einer Testfahrt gegen einen Baum. Über den Unfall wurde Stillschweigen vereinbart.
Victor Martens hat auch Bücher geschrieben, zum Beispiel „Deutsche Einwanderer erzählen – Paraguay.“ Immigranten erzählen über ihren Start in Paraguay in den 30-er Jahren. Dann hat er ein weiteres Buch verfasst, das ihn wohl eher als Sonderling dastehen lässt: „Berichte zur Entstehung des Buches ‚Das dritte Testament‘ – Nach den Offenbarungen und wörtlichem Diktat Gottes.“
Eine Foto in der spanischen Tageszeitung „ABC“ aus dem Jahr 1986 zeigt Viktor Martens, wie er eine Auszeichnung für die beste Autoverkaufs-Kampagne entgegen nimmt – für die Einführung des Audi 100 bekam er viel Lob. Auf der Höhe des Erfolgs sagte der Deutsch-Paraguayer-Spanier „Adios“ und verabschiedete sich in den Ruhestand. Obwohl er das Land Paraguay schon als 17-jähriger unter ärmlichen Verhältnissen verlassen hatte, entschieden er, seine Frau Blanka, seine Tochter und sein Sohn, ihre Hängematte in dem subtropischen Land aufzuhängen. „Ich habe auf einem Fragebogen Pro und Contra für Paraguay gesammelt. Die Pros überwogen: Heimweh, Nostalgie, Abenteuer, die Mutter.“
Das Rauschen der Palmen klingt wie Applaus
Im Alter ist er auch noch Mit-Besitzer einer Estancia (Viehfarm) im Chaco geworden. Der Landstrich reizt ihn, obwohl er den Dornbusch schon als Vierjähriger verließ. Immer wieder überquert er die Paraguayfluss-Brücke und saust auf der Trans-Chaco-Ruta dahin. Als Kaufmann hat er natürlich genau nachgezählt: Es waren 270 Reisen insgesamt. Wobei er jedes Mal bei den heimatlosen Indianern am Wegesrand anhält, um den obdachlosen Menschen ein Zelt zu schenken. „Jetzt dürfte jeder eins haben“, sagt Martens. Durch die riesigen Palmen in seinem Garten geht ein Windstoß – und das Rauschen klingt wie Applaus.