Foto: Die Studenten sowie Professoren und Forscher stellen sich in Detmold dem Fotografen. © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte.
Studententreffen zum Thema Erinnerungskultur
Unter Mennoniten gibt es eine große Vielfalt an Erinnerungskultur. Darüber diskutierten etwa 40 mennonitische Theologiestudenten sowie ihre Professoren und Forscher aus den Niederlanden, Österreich, Deutschland, Frankreich, Schweiz und Kanada im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold.
Im Mittelpunkt stand die Diversität der mennonitischen Erinnerungskultur. Erinnerungskultur bedeutet den Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte. Die Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg (Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen) und Leiterin der Mennonitischen Forschungsstelle in Weierhof PD Dr. Astrid von Schlachta betonte, wie viele Facetten der Begriff „Erinnerungskultur“ besitzt. „Wir können uns nicht nur auf einer individuellen Ebene erinnern, sondern auch als Gruppe, Nation oder Kultur“, sagte von Schlachta. „Dabei ist auffällig, dass es keine gemeinsame mennonitische Erzählung gibt.“
Widersprüchliche Aussagen zur Wehrlosigkeit
Diese Vielfalt an mennonitischer Erinnerungskultur betonten auf vertiefender Ebene die Historiker Prof. Dr. Mirjam van Veen und Dr. Theo Brok. Van Veen zeigte in ihrer historischen Analyse auf, dass in der Gegenwart die Wehrlosigkeit der Mennoniten betont werde, aber zu Beginn und im Verlauf der weiteren Entwicklung der Mennoniten es recht konträre und widersprüchliche Aussagen zur Wehrlosigkeit gab.
Menno Simons als mennonitischer Held
Brok stellte in seinem Vortrag „Menno Simons as a Mennonite Hero“ (Menno Simons als mennonitischer Held) die These auf, dass Simons (nur) ein täuferischer Wanderprediger aus der Mitte des 16. Jahrhunderts war, der später durch seine Schriften bekannt wurde. Dementsprechend wurde er in späterer Zeit zum Helden und Namensgeber der Mennoniten und fand einen zentralen Eingang in die mennonitische Erinnerungskultur.
Wie erinnern sich Russlanddeutsche?
Wie erinnern sich Russlanddeutsche mit täuferischer und baptistischer Prägung?
Nicht ohne Grund fand das Treffen im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold
statt. Im Detmolder Raum gibt es viele Christen mit russlanddeutschem Hintergrund und
täuferischem Bekenntnis. Die Literaturwissenschaftlerin Dr. Lilli Gebhard stellte in ihrem Vortrag das
Heimatverständnis der russlanddeutschen Mennoniten vor, worüber sie promoviert wurde. Sie
untersuchte etwa 300 Texte von Russlanddeutschen, die im Zeitraum von 1970 bis 2010 entstanden
sind. Gebhard wies darauf hin, dass „Heimat in diesen Texten nicht räumlich lokalisierbar ist. Heimat
ist dort, wo man sich mit Glaubenden auf den Himmel freuen kann.“
Traumata der Russlanddeutschen
Johannes Dyck präsentierte seine Untersuchungen zur Erinnerungskultur der russlanddeutschen
Freikirchen im langen Schatten des Gulags. Er bemerkte, dass sowohl in religiösen als auch
nichtreligiösen Aufzeichnungen die gemeinsamen Traumata einen zentralen Platz einnehmen.
Obwohl die Menschen an verschiedenen Orten lebten, erlebten sie alle ein tiefes Leid. Dyck hob
hervor, dass religiöse Erinnerungen weitere Komponenten enthielten, die in nicht-religiösen
Aufzeichnungen fehlten: Die Suche nach der „segnenden Hand Gottes“ inmitten des Leids, Buße vor
Gott für die Sünden der Vorfahren und der persönliche Glaube als bedeutendstes Element, um zu
überleben.
Aktivismus baptistischer Männer und Frauen
Über Baptistengemeinden in der späten Sowjetunion sprach die Historikerin Prof. Dr. Nadezhda
Beliakova in ihrem Vortrag. Sie analysierte die christlichen Gemeinschaften in der UdSSR und
interpretierte diese Zugehörigkeit zu einer illegalen Baptistenbewegung als eine Form des religiösen
Aktivismus. Ihr fielen dabei geschlechtsspezifische Besonderheiten in der Erinnerungskultur auf. Der
Aktivismus der Männer zielte auf die Aufrechterhaltung der Stabilität innerhalb der christlichen
Gemeinschaft ab. Der Aktivismus der Frauen hingegen bestand oft darin, den männlichen Aktivismus
in der Außenwelt zu unterstützen und ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. Dabei wird die Unsichtbarkeit
der Frauen im religiösen Aktivismus nicht nur als Teil patriarchalischer Dominanz, sondern auch als
Teil weiblicher Frömmigkeit interpretiert.
Politischer und religiöser Widerstand in Russland
Beliakova überzeugte nicht nur durch ihren Vortrag, sondern auch durch ihre Biografie. Sie selbst
konnte bis letztes Jahr ungestört in Moskau zum religiösen Widerstand in der späten Sowjetunion
forschen und lehren. Jedoch erschwerte sich die Lage von ihr und ihrer Familie, als sie sich
gemeinsam mit ihrem Mann an Protestbriefen und ihre Tochter an Straßenaktionen gegen den Krieg
in der Ukraine beteiligten. Seit Juni 2022 entschied sich die Familie das Land zu verlassen. Sie wohnen gegenwärtig in Lippe und vernetzen sich im deutschsprachigen Raum mit Osteuropa- und
Freikirchenforschern.
Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit der Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen der Universität Hamburg und dem Doopsgezind Seminarium der Freien Universität Amsterdam durchgeführt.
Quelle: Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte