Kürzlich lief im NDR und auf phoenix eine Reportage über die Russlanddeutschen und die AfD. Die Reporterin kennt sich exzellent in der Szene aus, zu der sie sogar einen persönlichen Zugang hat. Autorin Kyra Funk hat selbst russlanddeutsche Wurzeln.
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Dieser Artikel auf Plautdietsch!
Auch Plautdietsch-Sprecher kommen zu Wort
Dieser Film könnte eine Genugtuung für eine Minderheit sein, die sich oft und besonders in den Medien missverstanden fühlt. Da auch Plautdietsche zu Wort kommen (ohne als solche bezeichnet zu werden), will ich den Film hier besonders empfehlen, den es in der NDR-Mediathek und bei Youtube gibt. Bei Youtube lässt sich aus den Kommentaren schließen, dass zahlreiche Russlanddeutsche den Film in den falschen Hals bekommen haben oder einfach nur nörgeln.
„Plautdietsch erinnert mich an mein Zuhause“
Kyra Funk unternimmt mit ihrem alten Bulli eine Tour, um die Atmosphäre und politischen Ansichten innerhalb der russlanddeutschen Community zu dokumentieren. Sie ist als freie Journalistin, Filmemacherin und Podcasterin in Hamburg tätig. Geboren wurde Kyra Funk 1989 in Bielefeld, der mennonitischen Hauptstadt Deutschlands, als Tochter russlanddeutscher Aussiedler aus Kirgistan. Ihr Urgroßvater Bernhard Harder gründete dort die erste Mennonitengemeinde der Stadt mit. Gegenüber menno-welt.net sagt sie: „Die plautdietsche Sprache wird mich immer an mein Zuhause erinnern, und an meinen Opa, der mir schon von früh auf Geschichten auf Plautdietsch erzählte.“ Jetzt haben wir in unserer Verwandtschaft endlich die Gewissheit: Ja, Kyra Funk ist eine „von onse“, sie hat einen plautdietschen, einen mennonitischen Hintergrund.
Aufklärung über Ungerechtigkeiten
2013 absolvierte sie ihren Master in Journalistik und Kommunikationswissenschaften in Hamburg. Nach ihrem Uniabschluss heuerte sie als Videoredakteurin beim stern an. Dort arbeitete sie neben dem tagesaktuellen News-Geschäft auch an der Entwicklung von Videoformaten für stern oder neon.de. Heute ist sie als freie Journalistin tätig. Besonders erfolgreich war ihr Podcast „Toxic Church“ über die Hillsong-Organisation. „Den Status Quo hinterfragen, über Missstände und Ungerechtigkeiten aufklären, Menschen eine Stimme geben“ – das ist ihr Leitmotiv. Wer mehr über Kyra Funk wissen will: www.kyrafunk.de.
„In der grünen Kiste, das bin ich“
„Hier in der grünen Kiste, das bin ich, Kyra Funk. Als Kind russlanddeutscher Aussiedler bin ich als erste Generation meiner Familie in Deutschland geboren. Damit habe ich einen Migrationshintergrund. War mir lange gar nicht so wirklich klar war.“ So startet der Bericht, der mit Videoaufnahmen aus ihrer Kindheit bebildert ist. So wissen die Zuschauer von Anfang an, aus welcher Perspektive sie berichtet.
Größte Minderheit mit Stimmrecht
Der Film beleuchtet das massive Werben der AfD um die russlanddeutsche Community, die mit 2,5 Millionen Menschen, „in der Gesellschaft die größte Minderheit mit Stimmrecht darstellt“ (O-Ton Reportage). Auf ihrer Tour zu den Gesprächspartnern spricht Funk zuerst mit dem Werkstattleiter Waldemar Schneider, der auch ihren Bulli repariert. Von ihm hört man quasi stellvertretend die gängigsten Vorwürfe an die deutsche Gesellschaft: „Wir waren Außenseiter, Ausländer halt. Man hat uns nicht integriert.“ (Über seine Einwanderung.) „Dort waren wir die Faschisten, hier die Russen.“ „Die Leute werden sich an die Partei klammern, mit der sie sich identifizieren können.“ Und dann der krasseste Anwurf: „Dies ist eine Gesellschaft, die uns nicht mehr gefällt. Es ist kein demokratisches Land mehr.“ Beim letzten Satz gibt’s dann Widerworte von der Reporterin.
Autorin Elina Penner über Russlanddeutsche
Kyra Funk begegnet Elina Penner, einer erfolgreichen plautdietsch-mennonitischen Schriftstellerin, deren Werke „Nachtbeeren“ und „Migrantenmutti“ beim renommierten Aufbau-Verlag erschienen sind und beim Lesepublikum Anklang finden. Vom Verein „Plautdietsch Freunde“ erhielt sie den „Arnold-Dyck-Preis“. Den Begriff „Russlanddeutsche“ versucht Penner zu vermeiden – da er oft missverstanden wird und negative Stereotype hervorruft. Der Ausdruck „Die Deutsche mit russischem Pass“, der fälschlicherweise auf sie angewendet wurde, ist für sie ein „politisches Statement“, da wird noch viel dazu gedacht. Penner zufolge sind vielen Deutschen das historische Leid der Russlanddeutschen unter Stalinismus und Deportation unbekannt. Sie strebten danach, nach Deutschland, das Land ihrer Vorfahren, zu kommen. Dort angekommen, wollten sie sich beweisen und „deutscher als deutsch“ sein, mit einem eigenen Haus und einem deutschen Auto in der Einfahrt. Das Festhalten am christlichen Familienbild sei ebenfalls charakteristisch für einen großen Teil dieser Gemeinschaft.
Gespräch mit Onkel Peter
Mit ihrem Onkel Peter kommt sie in einem osteuropäischen Imbiss zusammen, wo man, Originalton Peter, „die guten Sachen essen kann: Wareniki, Tschebureki, Schaschlik“. Mit ihrem Onkel versteht sie sich gut, obwohl sie manchmal wegen unterschiedlicher Meinungen aneinandergeraten. Kyras Meinung, dass Russlanddeutsche und andere migrantische Kulturen vieles gemeinsam haben, findet nicht Peters Zustimmung. Er bemängelt, dass im Kindergarten aus Rücksicht auf muslimische Kinder auf Schweinefleisch verzichtet wird. „Du kommst in ein Land und erwartest, dass sich die anderen ( also die Einheimischen, Anm. d. Red.) anpassen?“ Das findet er unverständlich.
Überdurchschnittliche Werte für die AfD
Die Journalistin hat viele Eindrücke gesammelt. Doch wie manifestieren sich politische Einstellungen in wissenschaftlichen Analysen? Eine Reise nach Österreich steht an. Dr. Jannis Panagiotidis, Leiter des Forschungszentrums für Transformationsgeschichte in Wien, äußert: „Das Klischee, Russlanddeutsche seien durchweg AfD-Wähler, ist nicht zutreffend.“ Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Migrationsstudien und der Geschichte der Russlanddeutschen. Er erklärt: „40 Prozent der Russlanddeutschen wählen konsequent links der Mitte.“ Bei dieser Gruppe ist die CDU die stärkste Partei. Es ist also nicht so, dass alle Russlanddeutschen rechts wählen. Jedoch zeigt eine von ihm initiierte Studie, dass Russlanddeutsche überproportional die AfD wählen. Panagiotidis stellt fest: „Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erzielt die AfD überdurchschnittlich hohe Ergebnisse.“
Deutschtum, Russlandnähe, christliche Werte
Weitere Erkenntnisse des Forschers aus Wien zeigen: Die Solidarität unter Migranten ist gering, da sie sich oft in Konkurrenz zueinander sehen. Es wird argumentiert: „Wir haben uns alles hart erarbeitet, während andere Migrantengruppen alles geschenkt bekommen.“ Rassismus und Islamfeindlichkeit sind präsent, was jedoch auch für die Gesamtbevölkerung zutrifft. „Die AfD versucht, die Russlanddeutschen von mehreren Seiten zu vereinnahmen“, so Panagiotidis. Dabei wird die „deutsche Identität“ (als Deutsche anerkannt zu werden), die Verbundenheit zu Russland und eine „christlich konservative Ausrichtung“ hervorgehoben.
AfD für Christen nicht wählbar
Um einen Blick auf die christlich-konservative Schiene zu werfen, besucht Kyra Funk Lena Rothfuß, die ihre Wurzeln in einer freikirchlichen Gemeinde hat, wie so viele Russlanddeutsche. Gemeinsam bereiten die beiden das Abendessen vor. Es gibt Wareniki und Funchosa ohne Glasnudeln. „Irgendwie fand ich es gut, in einer Wertegemeinschaft aufgewachsen zu sein“, betont Rothfuß. Heute vertritt sie kritischere Haltung: „Die Art und Weise, wie es (das Christentum) in den Gemeinden praktiziert wird, ist eine andere Welt, die mich heute nicht mehr anspricht.“ Sie störe sich daran, wie wenig Frauen in der Gemeinde zu sagen haben. Dass die AfD auch in freikirchlichen Gefilden Erfolg hat, kann sie nicht verstehen: „Ich bin überzeugt, dass jemand, der christliche Werte vertritt, die Partei nicht wählen kann.“
Russlanddeutsche AfD-Politikerin
Angesichts der Nähe zur AfD ist es nicht erstaunlich, dass sich innerhalb der russlanddeutschen Gemeinschaft politische Karrieren entwickeln. Ein Beispiel ist der AfD-Bundestagsabgeordnete Eugen Schmidt, den die Medien bereits als „Putins Propagandisten im Bundestag“ bezeichnet haben. Auch die Hamburger AfD-Politikerin Olga Petersen, die erklärte: „In Russland bin ich deutsch geblieben. In Deutschland wollen sie es mir verbieten.“ Auf die Frage, wie sie und ihre Partei christliche Werte vertreten, antwortete Petersen: „Will ich eine islamische Gesellschaft, gehe ich in ein islamisches Land. Will ich eine christliche Gesellschaft, gehe ich in ein christliches Land.“ Eine offene Gesellschaft sieht anders aus. Warum Russlanddeutsche nach ihren Erfahrungen mit dem Totalitarismus eine homogene Ideologie favorisieren, bleibt mir unverständlich.
„Die Gruppe ist divers“
Während einer Lesung von Elina Penner gerät Kyra Funk ins Gespräch mit einer Familie russlanddeutscher Herkunft. Eine Frau sagt: „Wir haben uns angepasst. Aber zugleich gehört man nicht dazu. Man isst keine Königsberger Klopse, man isst Golubzi.“ Das könnte die Bilanz dieser Reportage sein. Oder um es in den Worten der Reporterin zu formulieren: „DIE Russlanddeutschen gibt es nicht. Die Gruppe ist divers und das sind auch ihre politischen Meinungen.“
Horst Martens