Reportage von 2009, aktualisiert / Text: Horst Martens

Wie in einem Brennglas bündeln sich in der Bahía, der Bucht von Asuncion, die sozialen Gegensätze. Auf den gigantischen Glasflächen des modernen Parlamentsgebäudes am Ufer des Paraguayflusses spiegeln sich die vis-a-vis im Überschwemmungsgebiet liegenden armseligen Hütten aus Wellblech, Plastik und Brettern des Elendsviertels „Chacarita“.

Wenn die Volksvertreter über neue Gesetze debattieren, haben sie stets die Armseligkeit im Rücken. Und wenn der Präsident aus dem rückwärtigen Fenster des etwas nördlicher gelegenen Regierungspalastes schaut, blickt er direkt in den Rachen der Misere.

Diese Reportage schrieb ich nach einem Paraguay-Besuch 2009. Mittlerweile hat sich einiges geändert an der Slum-Front. Der Präsident schaut nicht mehr auf das Armenviertel, sondern auf eine neu gestaltete Promenade mit Strandatmosphäre (siehe Foto-Slider). Allerdings ist ein Teil der „Chacarita“ geblieben, zu besichtigen neben dem „Cabildo“. Auf unserem Spaziergang im Jahre 2009 wurden wir mindestens viermal davor gewarnt, einen Schritt in das armselige Viertel zu setzen.

  • Das alte "Cabildo" am Ufer des Rio Paraguay - gleich daneben ... Foto: Thomas Schmidt

Die Urzelle Asuncions als Spiegelbild der Nation

Die „Bahía“ ist die Keimzelle der Stadt – und des ganzen Landes. Das Ur-Asunción. Paragua-í, wie die Menschen hier sagen, Klein-Paraguay. Lange Zeit bestand die spanische Provinz und heutige Republik vor allem aus der Stadt – mit ein wenig Hinterland. Am 15. August 1935 gründete der spanische Militärmann Juan de Salazar y Espinoza das Fort von Asunción (Mariä Himmelfahrt), um von einem sicheren Hafen aus die Konquista im Inland in Angriff zu nehmen. Von hier aus wurde der Neuaufbau von Buenos Aires organisiert, das sich nach seiner ersten Gründung als nicht überlebensfähig gezeigt hatte.

Eine Graffiti-Tafel auf der Plaza erzählt die Gründung der Stadt Asunción, und zwar dort, wo es auch tatsächlich passiert ist.
Eine Graffiti-Tafel auf der Plaza erzählt die Gründung der Stadt Asunción, und zwar dort, wo es auch tatsächlich passiert ist. Foto: Horst Martens

Demo auf der Plaza

Im Zentrum dieser Urzelle liegt die Plaza, deren Geschichte ebenfalls ein Abbild der Landeshistorie ist. Repräsentative und moderne Gebäude – die Kathedrale, das Polizeipräsidium, das alte Parlament, das neue Parlament – umfassen den geschichtsträchtigen Platz, der wie alle anderen Plazas der Stadt mit schwarz-weiß-gerillten Fliesen ausgelegt ist. Wenn Paraguayer etwas ins Licht der Öffentlichkeit rücken oder ein öffentliches Anliegen durchsetzen wollen, dann kommen sie hier zusammen. Blickfang ist das neuerdings rosa gestrichene alte Parlament, das heute „Cabildo“ genannt wird, ein beliebtes Motiv bei Fotografen und Touristen, das vom ersten der beiden López Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Selbst während der Stroessner-Ära versammelten sich in dem Gebäude mit den imponierenden Bogengängen die Senatoren und Deputierten, um über Gesetze zu diskutieren und sie dann zu beschließen. Die Debatte war nur eine Farce – so wie die demokratische Form nur eine Fassade war. Seit März 1999 steht vor dem „Cabildo“, das heute ein Kultur-Museum ist, ein schlichtes Holzkreuz. Die Fotografen treten einen Schritt zurück, um das Kreuz zusammen mit dem Prachtbau ins Bild zu rücken. Das Bild erklärt neuere paraguayische Geschichte ganz einfach, aber auch stark vereinfachend. Im März 1999 protestierten Tausende auf der „Plaza de la Independencia“ gegen den Mord an den paraguayischen Vizepräsidenten Argaña. Als den Auftraggeber sah die Öffentlichkeit den Militärmann und Politiker Lino Oviedo. Tausende versammelten sich auf der Plaza, um gegen den General und seine Parteigänger zu protestieren. Von den Hochhäusern hinter den Regierungsgebäuden zielten Freischützen auf die Menge und erschossen sieben Demonstranten. Das Ereignis ist als das „Massaker des paraguayischen Märzes“ bekannt. Die Hintergründe wurden nie aufgeklärt.

Vor über 30 Jahren sah man hier nur Spaziergänger. Verliebte Pärchen, junge Eltern mit ihren aufgeputzten Kindern, Eis-Verkäufer, Luftballonhändler. Tauchte eine Gruppe von zehn etwas lauter redenden Personen auf, wurde die Wache vor dem Kongress schon unruhig. Größere Menschenansammlungen waren dem Stroessner-Regime suspekt. Allzu leicht konnte daraus eine Demonstration werden.

Polizisten auf der "Plaza de la Independencia" in Asunción. Foto: Horst Martens
Polizisten auf der „Plaza de la Independencia“ in Asunción. Foto: Horst Martens

Heute, ein Dienstag, protestieren auf dem Platz Lehrer aus dem Inland gegen eine Reform, welche die Zentralisierung abschaffen will. Die Pädagogen befürchten nicht zu Unrecht, dass sie danach der Willkür der Gouverneure, der lokalen Fürsten, ausgesetzt sind und von den Hauptstadtpolitikern vergessen werden. Demos sind an der Tagesordnung auf diesem „Platz der Unabhängigkeit“. Kleinbauernverbände machen mobil, Landlose wettern gegen Großgrundbesitzer, Ureinwohner fordern das Land zurück, dass ihren Vorfahren geraubt wurde. Bekannt ist diese Plaza auch für ganz besonders drastische und makabre Formen des Protestes: Bald ein halbes Dutzend Männer und Frauen, die auf ein Unrecht hinweisen wollten, ließen sich hier schon an ein Kreuz nageln, wobei sie sich lange Nägel durch die Hände schlagen ließen. Die Gekreuzigten von Asunción sind lateinamerikaweit bekannt.

Eine Hundertschaft von Polizisten in Plexiglashelmen marschiert auf und bildet demonstrativ eine undurchdringliche Mauer. Man fragt sich, was das martialisch wirkende Aufgebot soll, da die Menge so friedlich wirkt. Blickt man jedoch in die Gesichter der Ordnungshüter, sieht man entspannte Mienen, die aussagen, wir sind nur hier, weil der Staat Präsenz zeigen muss.

Die Luft dieser Plaza war in der Geschichte Paraguays häufig mal bleihaltig – zuletzt 1989, als die in der Bucht liegenden Kanonenboote der Marine, die sich mit dem Putschisten Rodríguez gegen Stroessner verschworen hatten, über die Plaza hinweg auf das Polizeipräsidium schossen, bis die Polizisten einsahen, dass sie keine Chance hatten.

Chacarita – das Elendsviertel

Eine Balustrade begrenzt das „Cabildo“. Wenn man ahnungslos an das Geländer tritt, um einen Blick auf die idyllische Bucht zu werfen, zuckt man möglicherweise erschreckt zusammen. Das Gelände fällt heftig ab, weshalb das unten liegende riesige Hüttendorf ein paar Schritte vorher dem Auge verborgen blieb. Dort unten vegetieren die Ärmsten der Armen zwischen Moder, Dreck und schwelendem Abfall. Chacarita heißt der Stadtteil – selbst im Elendsviertel wird das Schachbrettmuster fortgesetzt. Wer hier aufwächst, verliert sich leicht in einem Sumpf an Drogen, Diebstahl, Prostitution und Gewalt. Über ein Jahr lebte der Fotograf Lucas Núñez in diesem Stadtteil, um Eindrücke für eine Fotoreportage zu sammeln: „Ich traf Leute, die am Rande des Todes leben. Für viele jungen Männer ist es beinahe so schwer, 20 Jahre alt zu werden wie für amerikanische Schwerverbrecher, aus Alcatraz zu fliehen“, schreibt er im Bildband „Asunción – documentos recientes“. Die Frauen prostituieren sich auf der Plaza Uruguaya, die Schuhputzer und ambulanten Händler gehen ins Micro-Centro, um den Managern und Touristen ihre Dienste anzubieten, die Müllsammler können in der Chacarita bleiben, weil dort genügend Abfall anfällt. Hier residierte zu Stroessners Zeiten Ramón Aquino mit seiner Schlägertruppe. Im Auftrag des Diktators zogen die Kriminellen aus dem Elendsviertel durch die Stadt und zerstörten aufmüpfige Radiosender oder verprügelten unbequeme Oppositionspolitiker. Wenn der Fluss über die Ufer tritt, steht das gesamte Viertel unter Wasser. Aber alle Umsiedlungsversuche sind bisher gescheitert. Dennoch gibt es nicht nur das schreckliche Chacarita, die kriminelle Brutstätte, in der Drogen- und Waffenhändler, Hehler und Zuhälter ein sicheres Versteck haben. Es gibt auch das Chacarita der Nachbarschaftshilfe, in dem die Menschen sich gegenseitig unterstützen und in großer Not helfen. Doch solche Gesten blühen oft im Verborgenen, sie schaffen selten den Sprung über die Balustrade.

Für Ortsfremde empfiehlt es sich nicht, diese verruchte Stätte ohne Geleitschutz zu betreten. Deshalb laufen wir an der Balustrade entlang, direkt am neuen Kongress vorbei, ein Glaspalast, der von der Regierung Taiwans gesponsert wurde, Paraguays bestem Freund außerhalb von Amerika. Zarte Bande knüpften die beiden weit voneinander entfernten Länder schon in der Zeit Stroessners, als die damaligen Diktaturen sich ihre Freunde nicht aussuchen konnten.

Überwacht wird die Gegend von einem überdimensionalen Standbild, dass den größten Helden Paraguays, den Marschall Francisco Solano López, darstellt. Nachdem sein Vater Carlos Antonio López das Land zu einem der fortschrittlichsten Länder Südamerikas aufgebaut hatte, verspielte sein Sohn, ein Heißsporn, das aufgehäufte Vermögen und führte das gut gerüstete, aber kleine paraguayische Heer in einen Krieg gegen die übermächtigen Argentinien, Brasilien und das von ihnen protegierte Uruguay. In diesem Dreibundkrieg, den blutigsten Konflikt in der südamerikanischen Geschichte, kämpften die Paraguayer heldenmütig – und beinahe bis zum letzten Mann. Am Ende (1870) war 75 Prozent der paraguayischen Bevölkerung und fast alle Männer ausgelöscht. Aber López junior wird nach wie vor als größter „Héroe“ verehrt.

Noch vor dem Krieg ließ der Nationalheld für sich ein paar 100 Meter weiter von hier, ebenfalls an der Bahía, eine prunkvolle Residenz bauen. Das blütenweiße, in U-Form angelegte Protzgebäude im italienischen Klassikstil errichtete der englische Architekt Alonso Taylor, der wie viele andere Wissenschaftler vom alten López aus Europa geholt wurde. López junior, der Marschall, hat nie in dem Palast gelebt, denn vor der Einweihung brach er den Krieg gegen die Triple-Allianz vom Zaun. Danach regierten die paraguayischen Präsidenten von hier aus, unter anderem 35 Jahre lang Stroessner. Während seiner Amtszeit wurden Passanten auf die gegenüber liegende Straßenseite verbannt. Wer stehen blieb, um das imposante Gebäude zu bewundern oder ein Foto zu schießen, wurde von den Wachposten per Trillerpfeife aufgefordert, doch mal schnell Land zu gewinnen. Doch jetzt ist alles anders. Gelangweilt beobachten die Wächter, wie wir an der Seite des Gebäudes entlang zum Fluss hinunter pilgern.

Der Hafen – vom Rost angefressen

Von Rost angefressen und damit eigentlich ein Fall von Pomata sind die Ladekräne im offiziellen und geschichtsträchtigen Hafen der Stadt. Sie sind mangels Ladeauftrag schon länger nicht zum Einsatz gekommen. Nur zwei Schiffe haben am Hafen angelegt. 1891 liefen im Hafen noch 668 Dampfer und 757 Segelschiffe ein. Davon kann man heute nur träumen. Stillstand auch in der Hafenhalle. Die Hafenarbeiter scheinen gerade Pause zu machen, denn die obligatorische Guampa macht ihre Runde. Ihre Arbeitskleidung ist noch makellos. Was gibt es schon zu tun, wenn auf einer Breite von 1,2 Kilometer Kaianlagen (Gesamtfläche 24 Hektar) nur zwei Schiffe liegen. Angel Espinoza, der Hafenmeister, spricht uns an, wir scheinen ihm willkommene Gäste zu sein, die die Eintönigkeit des Tages vertreiben.

Der historische Hafen von Asunción hat seit 2009, als ich diese Reportage schrieb, noch mehr an Bedeutung eingebüßt. Foto: Horst Martens
Der historische Hafen von Asunción hat seit 2009, als ich diese Reportage schrieb, noch mehr an Bedeutung eingebüßt. Foto: Horst Martens

„Der Hafen leidet unter der Bürokratie“, gibt Espinoza unumwunden zu. „Wer per Schiffsfracht Waren in Paraguay importieren will, muss nicht nur viel Papierkram erledigen, es dauert auch sehr lange, bis er die Fracht abholen kann.“ Wer bereit ist, zu schmieren, kann schon mal schneller zum Ziel kommen. Der dies sagt, ist aber nicht Espinoza, sondern leidgeprüfte Handelsunternehmen, die unter dem Joch der Bürokratie leiden. „Zur Zeit laufen Projekte, die Entbürokratisierung zum Ziel haben“, sagt Espinoza. Dem Staatsunternehmen „Hafen“ bleibt auch nichts anderes übrig, will es nicht geschlossen werden. Speditionsunternehmen und große Export-Firmen bauen sich ihre eigenen Häfen, wie derzeit gerade der französische Agro-Multi Louis Dreyfuss, der für seine Soja-Leichter eine moderne Anlegestelle in Villeta baut.

„Aber wir haben derzeit auch mit einem sehr niedrigen Pegelstand zu kämpfen“, will Espinoza die kritische Lage abmildern. Seit vielen Monaten hat es nicht geregnet, der Wasserstand sinkt jeden Tag mehrere Zentimeter. Schubverbände, die von Buenos Aires hochkommen, bleiben im Süden des Landes liegen. Aber die „höhere Gewalt“ ist nicht alleine daran schuld, dass der Schiffsverkehr behindert wird. Auf argentinischer Seite, erzählt man uns, gibt es keine Probleme, weil die Fahrrinne immer frei gebaggert wird, während die Paraguayer den Fluss der Natur überlässt. Die paraguayischen Exporteure sind wütend, schließlich haben sie 1500 Leichter und 140 Schlepper im Einsatz.

Der Charme des Hafen-Viertels

Bessere Zeiten hat auch das Stadt-Areal hinter dem Hafen gesehen. Die bröckelnden Fassaden der nach dem Dreibund-Krieg errichteten Häuser vermitteln den sympathischen Charme des Vergänglichen, dazu tragen auch die schäbigen Kaschemmen und Puffs bei. Im Gegenteil zu den Hafengegenden anderer Städte ist dieses Hafenviertel ziemlich ruhig und hat mit wenig Kriminalität zu tun. Die „Chopería del Puerto” in der Palma-Straße 1000 ist ein Treffpunkt für junge Leute, auch einige Diskotheken wie die „Pirata Bar“ , „Cafecito´s Bar“ und die Gay-Diskothek „Imperio“ sind bei der städtischen Jugend beliebt. Wir lassen uns in einer miefigen Kneipe nieder, in der es anscheinend nur Mittagessenn mit Wasser gibt. Als wir uns eine Cola bestellen, bringt die Serviererin uns eine Flasche, deren Inhalt aus einem riesigen Eisklumpen besteht. „Sie müssen nur so lange warten, bis der Brocken geschmolzen ist“, sagt die junge Frau und nimmt lächelnd unser Trinkgeld in Empfang.

Die Skyline von Asunción, von der Flussinsel Mbiguá aus gesehen. Foto: Horst Martens
Die Skyline von Asunción, von der Flussinsel Mbiguá aus gesehen. Foto: Horst Martens

 

 

 

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