Zeitzeugen erinnern sich an den denkwürdigen Besuch des Zigarre rauchenden Kanzlers im Jahre 1965 – die Erwartungen waren hoch, noch größer war wenig später die Enttäuschung
Autor: HORST MARTENS / Der Bericht erschien auch in Ralf Piorr (Hg.): Vor Ort. Geschichte und Bedeutung des Bergbaus in Herne und Wanne-Eickel. adhoc Verlag, Dezember 2010.
Herrliches Frühlingswetter herrscht an diesem Freitag, dem 2. April 1965. Nach einem kühlen Morgen klettern die Temperaturen im Laufe des Vormittags auf 18 Grad. Über Friedrich der Große III/IV schwebt eine knisternde Stimmung. Alles bereitet sich auf den Besuch des Kanzlers Ludwig Erhard vor. Dietrich Kurrat, 76, und Heinz Hess, 81, Bergleute im Ruhestand, haben das Ereignis live miterlebt. „An dem Tag herrschte eine große Aufgeregtheit“, beschreibt Kurrat, damals Ausbau-Ingenieur, die Atmosphäre.
Kurrat, diplomierter Bergingenieur, wohnhaft in der Heckerstraße, 15 Minuten Fußweg von seiner Arbeitsstelle entfernt, steht wie jeden Morgen um 5.30 Uhr auf, zieht sich „anständig an“, legt zum Schluss einen Binder um. „In der Stabsstelle traten wir alle mit Krawatte auf. Hatte sich mal jemand nicht standesgemäß gekleidet, sagte der Vorgesetzte: Da fehlt doch was. Und da musste der Kollege nach Hause gehen und sich umziehen.“
Als er um sechs Uhr durchs Zechentor geht, ist eigentlich alles wie immer. Keine Dekorationen, keine Blumen oder Wimpel, auf so’n Kappes hat man verzichtet. Heinz Hess ist Elektro-Steiger: „Wir hatten nichts geschmückt, die Ausstattung war recht nüchtern.“ Aber etwas ist doch anders: „Die Sicherungsgruppe Bonn hatte die umliegenden Dächer mit Scharfschützen besetzt“, erinnert sich Kurrat. Die Polizisten, die den wichtigsten Mann der Republik beschützen sollen, kommen schon vorher und drehen jeden Blumenkübel um.
Die über 3.000 Kumpel wissen: An diesem Tag geht es auch um ihre Zukunft
Die über 3.000 Kumpel auf Friedrich der Große sind nicht nur aus dem Häuschen, weil ein Prominenter kommt, an diesem Tag geht es auch um ihre Zukunft. Kurrat: „Wir waren alle besorgt, die Kohlekrise deutete sich an.“ Jeden Kumpel, wo auch immer er malocht, drücken Zukunftssorgen, denn jede einzelne Zeche steht zur Disposition. Auf „die da oben“ ist man nicht so gut zu sprechen, die Erfahrung hatte der Kanzler schon in Gelsenkirchen-Buer gemacht, wo er mit Tomaten beworfen wurde. Die Kumpel von Friedrich der Große haben die Hoffnung, sich auf dem Markt zu behaupten. „Wir hatten eine moderne zentrale Förderanlage geteuft, den Schacht VI, mit dem wir uns große Überlebenschancen ausrechneten“, sagt Kurrat. Die Gründung der Ruhrkohle ist im Gespräch, die den größten Teil der Steinkohleförderunternehmen unter einen Hut bringen soll. Jeder will mit den besten Voraussetzungen in diese Einheitsgesellschaft einsteigen. Bei den Diskussionen über den Zusammenschluss von Zechen „ist ja fast ein Krieg geführt worden“, sagt Kurrat, der persönlich an den Verhandlungen teilnahm. „Mont Cenis hatte große Ambitionen, uns zu schlucken. Nachher wurde Mont Cenis dann von uns geschluckt. Ohne den Schacht sechs hätte Herne den Bergbau viel früher verloren.“
An diesem Freitag haben die Kumpel von Friedrich der Große jedoch den Eindruck, dass es wieder voran geht. „Ja“, bestätigt Hess den Eindruck, „wir waren zuversichtlich, eigentlich herrschte eine regelrechte Aufbruchsstimmung.“ Überhaupt, das Leben auf dem Pütt machte Spaß. „Wir hatten ein unglaubliches Zusammengehörigkeitsgefühl“, beschreibt Kurrat das freundschaftliche Miteinander. „Alle wohnten ‚auf der Seilscheibe’“, eine Redewendung, die die Nähe zum Bergwerk beschreibt, „also kannten wir uns alle.“ Als Heinz Hess den Betrieb wechselte und auf der neuen Stelle gefragt wurde „Wie isset so?“, antwortete er: „Hier ist prima. Auf FDG ist es aber noch primerer!“ Noch heute ist er der Meinung: „FdG war was Besonderes.“
Der Pförtner, ganz aufgeregt: ‚Der kommt jetzt, der kommt jetzt’“
Kurz vor 11 Uhr klingelt am Zechentor das Telefon. „Der Kanzler kommt.“ An den Mann am Eingangstor können sich Hess und Kurrat noch gut erinnern, er hatte nur einen Arm, wahrscheinlich eine Kriegsverletzung. „Die Kanzlerbegleiter haben per Funk-Telefon den ganzen Weg beschrieben. Dann hieß es: Wir biegen jetzt in die Von-Waldthausen-Straße ein. Darauf der Pförtner, ganz aufgeregt: ‚Der kommt jetzt, der kommt jetzt.’“
Die Honoratioren treffen ein, begleitet von Martinshörnern und Blaulicht. Kanzler Erhard, Ministerpräsident Franz Meyers und Hernes Oberstadtdirektor Edwin Ostendorf werden vom Chef der Zeche, Bergrat Helmuth Heintzmann, begrüßt. Als erstes muss der hohe Besuch in die Waschkaue, um sich standesgemäß anzuziehen – Kittel, Helm und Schuhe. „Wir haben schon vorher überlegt, was hat denn der Erhard für eine Kleidergröße, was für eine Kopfgröße, was für eine Schuhgröße? Er musste sich total ausziehen. Aber er bekam die Direktionskabine, da sah es aus wie geleckt, wie im Schwimmbad“, erinnert sich Kurrat.
„Da war viel Bla Bla dabei“
Dann begeben sich „die Herrschaften“ auf die Rasenhängebank, den Umlauf für die Fördergefäße und die Stelle, „wo die Jungs in den Korb gehen“. Grüner Rasen breitet sich hier nicht aus, wie der Begriff induzieren könnte, es ist nur eine Andeutung, dass die Plattform zu ebener Erde liegt. Erhard hält eine flammende Rede, in der er sagt: „Ich stehe dafür, alles zu tun, damit der Kohle ein fester Anteil am Energiemarkt in Höhe von 140 Millionen Tonnen erhalten bleibt.“ Hess wundert sich noch heute: „Ja, er nahm tatsächlich das Wort ‚140 Millionen’ in den Mund. Wir haben geklatscht. Die Bergleute applaudierten begeistert.“ Erst später wird vielen klar: „Da war viel Bla Bla dabei.“
Hess hat den Auftrag, die Begleitung des Kanzlers zu bewirten. Die Horsthauser Metzgerei Kuniß hat Mettbrötchen und andere Leckereien geliefert. Der Kanzler-Fahrer meldet sich, er hat Durst. „Was wollen Sie: Wasser, Cola, Fanta, alles da!“ fragt Hess. Der Fahrer schüttelt den Kopf und zeigt auf eine andere Flasche: „Da steht Iserlohner Pilsener. Was ist damit?“ Hess: „Ja, aber Sie müssen doch den Kanzler fahren.“ Darauf der Fahrer: „Das macht doch nichts. Vor mir ist Polizei. Hinter mir ist Polizei. Da kann nichts passieren.“ Damals sei man mit Alkohol am Steuer nicht so pingelig gewesen, meint Hess: „Die tranken doch alle einen Schluck, auch die Eskorte.“
Danach plagt Ministerpräsident Meyer ein Bedürfnis: „Wo geht’s zur Toilette?“ will er wissen. Hilfsbereit antwortet Hess: „Na, kommen Sie mal mit.“ Meyer kontert: „Aber Sie kommen nicht mit rein!“
Kurrat kommt in die „Quick“
Kurrat hat keine Aufgabe übernommen und kann sich unter die Gäste mischen. In seinem Fotoalbum klebt ein Foto der damals populären Illustrierten „Quick“. Man erkennt Kurrat, der etwas versetzt hinter den Honoratioren steht.
Mit einem Kübel, der beim Ausbau des Schachts Material und Menschen befördert, soll der Kanzler jetzt in die Tiefe fahren. Kurz vor ihm kommt die Morgenschicht heraus. Einer der Kumpel bietet sich an, dem Kanzler die Schuhe zu putzen. War ein Running Gag: Fürs Schuhe putzen gibt es einen Kasten Bier, worüber der Kanzler auch informiert wird. Darauf Erhard: „Ich gebe drei!“
Der korpulente Kanzler hat seine liebe Mühe mit dem Einsteigen, zumal er in seiner Rechten die unvermeidliche Zigarre hält. Rauchen aber ist strengstens untersagt. Der Schachtarbeiter Türk schreit: „Herr Bundeskanzler, die Zigarre!“ Erhard gibt seine Zigarre an Türk, der sie seelenruhig weiterraucht. Dann fährt der Kübel mit den Promis 200 Meter in die Tiefe. Später wird Türk mit einer ganzen Schachtel Erhard-Zigarren beschenkt.
Der Fernsehjournalist Walter Erasmy, bekannt durch Sendungen wie „Hier und Heute“, läuft Hess über den Weg: „Wo ist der Erhard?“ will er wissen. „Ich sag, der ist wahrscheinlich in der Dusche und nachher im Casino. ‚Den muss ich noch für meinen Bericht kriegen‘, antwortet Erasmy.“ Schnell wird noch zur Erinnerung ein Foto geschossen. Erhard tafelt derweil mit den Oberen im Casino. Um 15 Uhr tritt er seine Rückreise an.
Udo Jürgens singt kohlenstaubgeschwärzt „Merci, Cherie“
Der Kanzler bleibt nicht der einzige Promi auf Friedrich der Große. Udo Jürgens kommt 1970 vorbei, lässt sich 900 Meter tief auf die achte Sohle bringen, kommt kohlenstaubgeschwärzt zurück und gibt vor den Bergleuten ein kleines Konzert. Die Kumpel sind begeistert von „Cotton Fields“ und „Mercie, Cherie“. Kurrat lässt sich eine LP signieren, die er noch heute hat. „Herzlichst Ihr Udo Jürgens steht drauf – die ist bestimmt ein kleines Vermögen wert.“
Am Ende steht die Null
Was Ludwig Erhards Besuch wert ist? Seine flammende Rede hat keine nachhaltige Wirkung: „Nachher wurden die Zahlen immer kleiner“, wissen Kurrat und Hess heute. Am Ende steht, es ist allgemein bekannt, die Null. Erhard ergeht es nicht besser. Der Vater des Wirtschaftswunders tritt über ein Jahr später, am 1. Dezember 1966, zurück. Das Ende von Friedrich der Große hat er nicht mehr miterlebt. Am 5. Mai 1977 stirbt er an Herzversagen in Bonn – zehn Monate, bevor die Zeche endgültig ihre Tore schließt.
Text: Horst Martens