Die Aquidabán vor dem Ablegen. Foto: Thomas SchmidtDie Aquidabán vor dem Ablegen. Foto: Thomas Schmidt

Peones, Zäunezieher, Viehzüchter und Prostituierte pendeln mit der „Aquidabán“ zu ihren abgelegenen Arbeitsstellen. Mit einem Passagierschiff den Paraguayfluss hoch

Reportage aus dem Jahre 2009 von Horst Martens (Text) und Thomas Schmidt (Fotos). Der Artikel erschien auch leicht verändert in Tours – das Abenteuermagazin.

Der Flussdampfer „Aquidabán“ bietet einen echten Pendlerservice an: Peones, Zäunezieher, Viehzüchter, Lehrerinnen und Prostituierte schippern für weniger als zehn Euro zu ihren mehrere hundert Kilomter entfernten Arbeitsstellen. Die 40-Meter-Barkasse ist eines der wenigen Personenschiffe, die regelmäßig auf dem Río Paraguay zwischen Concepción und dem Pantanaldorf Bahía Negra im Norden verkehren. Horst Martens und Thomas Schmidt buchten ebenfalls eine Passage und begleiteten die siebenköpfige Crew und 50 Passagiere auf einer manchmal beschaulichen, manchmal skurrilen Reise.

Geschäftiges Treiben am Hafen des Städtchens Concepción. In einer kleinen Bucht des Río Paraguay, abseits der Kaianlagen, liegt die „Aquidabán“ in den Farben blau, himmelblau und weiß. Über einem schmalen Anlegesteg – ein vier Meter breites Brett mit aufgenagelten Quersprossen – balancieren athletische Gestalten auf ihren Schulten schwere Lasten.

  • Mit dem Pferdewagen zur Anlegestelle. © Thomas Schmidt

Teile eines Bettes, Bananentrauben, Matratzen, Drahtrollen, Bretter, Mehlsäcke, Motorräder – alles landet vorne auf dem langen Bug. Der Laderaum ist ohnehin schon bis zu den Luken gefüllt. Zwischen Aufbau und Deckskante passt kein Blatt, die Reling ist schon lange nicht mehr begehbar. Die sperrige Fracht an Land stapelt sich noch meterhoch. Und noch immer kommen altertümliche Eselkarren angezockelt, gezogen von klapprigen Mähren, gelenkt von Campesinos in breitkrempigen Sombreros, die Säcke voller Maniok und Orangen abladen. Obwohl das langwierige Einschiffen ohne erkennbare Ordnung abzulaufen scheint, schält sich doch ein kräftiger Mann in einem gelben T-Shirt als derjenige heraus, der Regie führt. Später als wir an Deck sind, stellt er sich als „Marinero“, als Matrose Julio Godoy vor. Sein Job sei der eines „Comisarios“. Aufgabe: Sich um alles kümmern, was mit Fracht und Passagieren zu tun hat.

Aus den Fenstern des Decksaufbaus blicken Passagiere neugierig auf die bewegte Szenerie. Sie haben schon eingecheckt, um sich einen Platz zu sichern, denn davon gibt es offensichtlich nicht genug. Wir müssen noch nicht an Deck, denn schließlich haben wir uns einen Camarote (Kabine) reserviert. Der Angestellte in der Schiffsagentur kann sich leider auf den genauen Zeitpunkt des Ablegens nicht festlegen: „Normalerweise starten wir um elf, aber wenn an der Mole viel Bewegung ist, schickt uns die Hafenbehörde auch schon mal eine Stunde vorher weg.“ Nun gut, andere Schiffe an den Kais sind im Moment nicht auszumachen. Also bleibt’s wohl bei elf Uhr. Vielleicht.

Blasse Aufschriften auf alten Depots

Im Hafen hingegen hat sich die Betriebsamkeit etwas entspannt. Im Steuerhaus nimmt Kapitän Benítez über Funk die Wasserstandsmeldungen entgegen. Der Fluss führt Niedrigwasser, aber Benítez macht sich keine Sorgen, seine „Aquidabán“ hat wenig Tiefgang. Ein „Marinero“ mit Namen Medina führt uns durch das kunterbunte Durcheinander an Taschen, Gepäckstücken und ausgestreckten Beinen und an einem improvisierten Marktstand vorbei, an dem Doña Juana und Doña María Früchte, Gemüse, „Gaseosas“ (Limonaden), Bier, „Empanadas“ (Pasteten) und „Milanesas“ (panierte Filets) anbieten. Die meisten Menschen haben es sich auf den Sitzreihen entlang der Bordwand bequem gemacht. Auch die an Verstrebungen befestigten Hängematten sind längst alle belegt. Der „Marinero“ führt uns eine Treppe höher, wo ebenfalls eine gequetschte Enge herrscht.

Fotograf Thomas Schmidt testet die Koje. © Horst Martens
Fotograf Thomas Schmidt testet die Koje. © Horst Martens

Aber hier sind die Camarotes, vier Kabinen an jeder Seite des Mittelganges. Als wir uns in der Schiffsagentur gewundert hatten, dass wir für die Kojen nur einen Aufschlag von umgerechnet etwa 14 Euro zahlen mussten, warnte der Büromensch vor überzogenen Erwartungen: „Señores, die Schlafstätte ist sehr prekär.“ Was genau er darunter verstand, sehen wir jetzt: Ein robustes Stockbett mit fleckigen Matratzen, die wohl Zeit ihres Lebens kein Laken gesehen haben. „Seihen sie froh, früher stand hier noch ein zweites Stockbett drin“, lachte Medina. An unserer Tür steht „1“, aber die Koje ist die schäbigste von allen: Die Holztür zum Gang ist nicht verschließbar, was für uns ein Handicap ist, denn wir möchten unser Gepäck mit den teuren Kameras nicht unbeobachtet liegen lassen. Dass aus dem rechteckigen Fenster das Glas schon längst ausgeschlagen ist, stört uns erst in der Nacht.

  • In der Mitte des Schiffsbauches ein Marktstand, links die "billigen" Plätze. © Thomas Schmidt

Die Schiffssirene tutet, es geht los. Das Ablegemanöver findet viele Zuschauer, die ebenso wie wir den Matrosen im Weg stehen, die jedoch unbeeindruckt von den Gaffern das dicke Hanfseil und die Landungsbretter einholen. In den Lücken zwischen dem amorphen Frachtgut an Deck kampieren zahlreiche Indianer vom Stamme der Angaité.

Abenteuerliche Gestalten

Auf diesem zwischen 300 Meter und zwei Kilometer breiten Fluss sind die Ufer manchmal nur als Silhouette zu erkennen: Links der schwül heiße Gran Chaco mit seinen sumpfigen Palmsavannen, die später in undurchdringbaren Dornbusch übergehen, recht der „Oriente“ mit subtropischen Waldlandschaften. Im schmuddeligen Camarote ist es jetzt noch am Gemütlichsten – wegen der Beinfreiheit und des Gefühls der Fremdheit. Die Passagiere sind nicht die lächelnden, charmanten und schwätzenden Paraguayos, die wir in Asunción kennen gelernt haben. Sie sind zumeist sehr ruhig, schauen ernst, sprechen kaum und drehen sich schüchtern oder gar ärgerlich weg, wenn sie eine Kamera auf sich gerichtet sehen. Diese befangenen Menschen mit ihren markanten bronzefarbenen Gesichtern, in denen Witterung und archaische Erlebnisse unübersichtliche Spuren eingemeißelt haben, blühen wohl nur in der vertrauten Einsamkeit ihres Ranchos auf. Aber ihr distanziertes Verhalten stärkt nicht gerade unser Vertrauen. „Auf der Aquidabán reisen abenteuerlich Gestalten, passt auf euch auf“, hatten Freunde gewarnt. Wir werden sehen.

Etwas kosmopolitischer wird es im Camarote gegenüber. Dort ziehen zwei junge Männer ein, die wir als die typischen Rucksacktouristen einstufen. Ihre Frisuren entsprechen den Vorstellungen der Popkultur, an ihren jungenhaften Gesichtern hat der Zahn der Zeit noch nicht genagt. Zur Kontaktaufnahme kommt es noch nicht, die angeblichen Touris zischen sich eine Büchse Bier nach der anderen rein.
Und dann nimmt doch jemand mit uns Kontakt auf. Eine Frau im Glitzer-T-Shirt, die vor unserer Koje ein paar Tücher ausgebreitet hat, auf dem sie mit ihrem kleinen Jungen und ihrer Freundinn sitzt, bietet uns an: „Ich passe auf eure Sachen auf“. Sie hat gemerkt, wie wir erfolglos versuchen, die Tür mit einem faserigen Faden abzuschließen. Dann fragt sie, woher wir sind, und das Gespräch zwischen Tür und Angel ist eröffnet.

María Raquel Duarte, 33, und Irma Ramona Acosta, 42, unterrichten beide auf der Flussinsel Leonor, auf der 27 Familien und insgesamt 176 Menschen leben. Die männliche Bevölkerung verpflichtet sich als Peones auf den Estancias des Gran Chaco, die Frauen sind Hausfrauen. Die beiden „Maestras“ nehmen, wie sie sagen, „ein großes Opfer auf sich“: „Für die Bildung verlassen wir unsere Arbeit.“ Die etwas größeren Kinder, die Ehemänner und alle anderen Familienangehörigen leben derweil in Concepción. An zwei Freitagen im Monat nehmen die Lehrerinnen die „Aquidabán“ nach Hause. Am Dienstag danach geht es dann wieder zurück zu Tafel, Kreide und wissbegierigen Schülern. Über Land können die Frauen nicht verreisen, denn eine direkte Nord-Süd-Strecke existiert am Fluss entlang nicht. Die provisorischen Wege der Estancias sind zwar öffentlich, aber auch extrem verzweigt. Zudem beisitzen die Lehrerinnen keine eigenen Autos. „Das Leben auf der Insel ist armselig“, sagen sie, „sehr einfach, keine Technologie, kein elektrisches Licht“.
250-mal haben sie die Tour schon gemacht in den letzten sieben Jahren ihrer Berufsausübung in Leonor – am Freitag hin, am Dienstag wieder zurück. „Wir haben uns mit der Situation angefreundet“, sagen sie. „Die Reise teilen wir mit vielen Menschen. Und wir bereichern unser Wissen über die Welt”, sagen sie.

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María Raquel Duarte und Irma Ramona Acosta sind Lehrerinnen auf einer Flussinsel. Foto: Thomas Schmidt

Die freundlichen „Comisarios“ im engen Schiffsbüro geben uns die Erlaubnis für ein Interview mit dem Kapitän. Auf der Treppe zur Brücke schiele ich durch die offene Tür ins Steuerhaus. Eine Uniformjacke oder Kapitänsmütze ist nicht in Sicht, ein Dresscode ist hier auch nicht angebracht. Ich sehe über mir die nackten Füße und aufgeplatzten Fersen des Mannes, der uns durch die Untiefen des Rio Paraguay führt. „Interview?“ Kapitän Benítez macht das Nein-Zeichen mit seinem Finger, hakt mit einer langen Krampe die Tür ein und stellt sich in die hinterste Ecke des Steuerhauses. Ein Nachhaken im Büro bringt nur halben Erfolg. Der Fotograf darf Fotos schießen, aber er soll den Mund halten.

Die "Comisarios" in ihrem Minibüro auf dem Schiff. © Thomas Schmidt
Die „Comisarios“ in ihrem Minibüro auf dem Schiff. © Thomas Schmidt

Ein paar Zeugen kritisieren meine Art der Annäherung: „Der Mann hatte ‚vergüenza‘“, tadeln sie mich, „er hat sich geniert, weil er nur schlecht Spanisch spricht.“ So leicht können wegen kultureller Unterschiede Missverständnisse entstehen. „So sind hier eben die Menschen“, wirbt Comisario Medina für Verständnis, „sie haben Angst vor dem Fremden. Außerdem sprechen sie nicht gerne Spanisch.“ 85 Prozent der Paraguayer sprechen die Indianersprache Guaraní, für viele ist es die einzige Sprache, in der sie kommunizieren. Auch an Bord sind einige, die uns nicht verstehen (wollen). Mit der Sprache der Konquistadoren haben sie nichts am Hut.

Klingeltöne bimmeln eine Melodie von Jennifer López. Medina zückt das Handy. Der „Comisario“ trägt das Mobiltelefon am Gürtel, dort wo bei jedem richtigen Mann im Outback noch vor ein paar Jahrzehnten die Pistole hing. Kommunikationsmäßig hat der paraguayische Macho abgerüstet. Obwohl der Moderne sonst verschlossen, besitzt jeder ein Handy, ein magisches Ding für einsame Orte.

Dicker Auftrag von der Rinderfarm

Langsam tauen die Menschen auf. Auf dem Bug, zwischen einem chinesischen Kenton-Motorrad und einem knubbeligen Maissack, bietet Marcus Cañete den Umstehenden Tereré an, die Mate-Tee-Version mit eisgekühltem Wasser. Kühlgeräte aller Art repariert Cañete, vom Kühlschrank bis zur Klimaanlage. Eine Estancia hat ihn engagiert, in Puerto Pinasco geht er von Bord.

Den Auftrag einer Rinderfarm, die gerade im Entstehen ist, hat Ruben Casals, 52, in der Tasche. Der gelernte Schreiner soll für den Rinderbaron alles bauen, was aus Holz ist, vom Corral bis zum Ehebett. Da wird er lange sägen, bis er seine Frau und Kinder wiedersieht.

Kühlmittelhändler Canete hat einen Platz auf dem Sozius ergattert. Foto: Thomas Schmidt
Kühlmittelhändler Canete hat einen Platz auf dem Sozius ergattert. Foto: Thomas Schmidt

Cañete reicht das mit Tereré gefüllte Kuhhorn an Ladislao Reyes, der auf einem Satz Autoreifen kauert. Reyes, 21, ist einer von sechs Mitinhabern einer kleinen, 1.400 Hektar umfassenden Estancia in Puerto Pinasco. Sein Großvater war „Mayordomo“ (Verwalter) einer Groß-Estancia, die von einem ausländischen Unternehmen geführt wurde. Als die Gringos, die sich hauptsächlich der Gewinnung der Gerbsäure Tannin aus dem Quebracho-Holz widmeten, bankrott waren, entschlossen sich die Arbeiter zu einem Kampf um die Abfindung. Eine Geschichte, die sich in mehreren Tanninfabriken am Chaco-Ufer wiederholt hat. Tannin war auf dem Weltmarkt nicht mehr gefragt, die Firmen machten dicht und hinterließen tausende arbeitslose Menschen. Von Glück konnte reden, wer wie Ladislaos Großvater aus der Erbmasse noch was herausschlagen konnte.

Fehl am Platz scheint Graciela Quevedo, 43, eine elegante und eindeutig urbane Erscheinung. Sie lebt in Concepción und besucht den „Campo“, den ihre Familie im Chaco besitzt. „Ich könnte auch mit dem Auto fahren, selbst wenn ich einen Umweg in Kauf nehme, ist es schneller. Aber das Leben auf diesem Schiff ist so bunt und vielfältig, es macht riesig Spaß.“ Um zu unterstreichen, dass sie die Etikette der „besseren“ Gesellschaft ablehnt, zitiert sie einen Satz, der aus der paraguayischen Literatur stammen muss: „Das Kostüm und die hochhackigen Schuhe verbanne ich aus meinem Leben.“

Immer wieder treiben Camalotes vorbei, kleine Inseln aus glänzenden großblättrigen Wasserpflanzen mit lilafarbenen Blüten.
Immer wieder treiben Camalotes vorbei, kleine Inseln aus glänzenden großblättrigen Wasserpflanzen mit lilafarbenen Blüten. Foto: Thomas Schmidt

Oben pinkelt ein kleines Kind herunter, unten strecken kleine Kinder die Hände aus, weil sie glauben, es regnet. Der ältere Mann, der sich die ganze Zeit nicht aus der Hängematte bewegt, unterhält sich mit den Lehrerinnen über Rezepte. Immer wieder treiben Camalotes vorbei, kleine Inseln aus glänzenden großblättrigen Wasserpflanzen mit lilafarbenen Blüten. Anfangs verwurzelt mit dem Boden, lösen sich die ineinander verschlungenen Pflanzen bei steigendem Wasser vom Grund und bilden lange schwimmende Agglomerate.
Langsam wird es dunkel, die Kamera klickt, um den Sonnenuntergang einzufangen. Der Banco Leonor nähert sich, die Lehrerinnen werden von Bord gehen. Gespannt warten wir darauf, wie das Schiff in der Dunkelheit anlegen wird. Doch der Steuermann nimmt nur Schub weg. Währenddessen setzen Hilfsmatrosen das Beiboot blitzschnell ins Wasser, die Lehrerinnen mit Kindern, Hab und Gut steigen ein, und schon rauscht der Kahn davon. Mit starken Scheinwerfern suchen die Matrosen die Insel ab und finden die beste Stelle, um die Passagiere aussteigen zu lassen. Das geschieht in dieser Nacht noch einige Male. Die „Aquidabán“ ist ein richtiges Bummelschiff. Die nächste Haltestelle ist immer da, wo der nächste Passagier von Bord gehen will. Am nächsten Anlegeplatz soll „Provista blanca“ (weiße Lebensmittel: Salz, Mehl, Reis) entladen werden. Am Ufer stehen drei Männer mit einer Taschenlampe und lotsten das Schiff mit selbst erfundenen Morsezeichen ans Ufer.

Währenddessen kocht Humberto Panza, 36, in seiner schmalen Kombüse das Abendessen. Es gibt „Puchero“ nach paraguayischer Art, einen Eintopf mit einem Stück Suppenfleisch, Kartoffeln und Gemüse. Der Smutje bewegt sich auf engstem Raum. Die Theke, vor der er arbeitet, zweigt in der Form eines U ab, so dass mehrere Personen daran Platz finden. Seit zehn Jahren ist er Koch auf der „Aquidabán“. „Es hat sich so ergeben“, sagt er pragmatisch. Ebenso prosaisch gestaltet er die nicht gerade variationsreiche Speisekarte: „Meine Kunden sind Campesinos. Einfache Leute vom Land. Ich koche das, was sie kennen: puchero, sopa soyo, guiso.“ Und als Beigabe immer eine Empanada.
Schräg gegenüber löffelt Patrocinio Denis, 50, seine Suppe aus. Mit seiner Frau und seinen Kindern lebt er in Horqueta, in der Nähe von Concepción. Von einer Estancia bei Carmelo Peralta hat der gelernte „Zäunezieher“ jetzt einen großen Auftrag bekommen. Kilometer für Kilometer wird er Pfosten setzen und Drähte ziehen. Zur Verstärkung hat er seinen Sohn Freddy mitgebracht. „Um meine Frau und meine Kinder, die ich zurück gelassen habe, mache ich mir keine Sorgen“, sagt er, „ich weiß ja, dass sie gut aufgehoben sind.“ Nach der Rückkehr will er seiner Frau einen Batzen Bargeld auf den Tisch knallen: „Das ist unser Häuschen, Alte“, wird er sagen. Das Grundstück dafür hat er nämlich schon vor längerer Zeit gekauft.

Ein bisschen Platz ist immer

Bei einem Gespräch im engen Schiffsbüro bestätigen die „Comisarios“ Julio Godoy und Elvio Medina, was wir längst vermutet haben. „80 Prozent unserer Passagiere sind Pendler. Sie reisen bis zu 600 Kilometer, um eine Arbeitsstelle anzutreten. Als Peones, als Waldarbeiter, als Arbeiter der Kalkfabriken. Oder es sind Indianer, die in ihre Dörfer zurück kehren.“

Aber die Aquidabán ist auch Provista-Transporter von Lebensmitteln und Konsumgütern aller Art. Ladenbesitzer, Estancia-Verwalter und kleine Gastronomen bestellen, das Schiff liefert. Bis zu 40 Tonnen – manchmal auch lebender Natur wie Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner – passen angeblich in den Schiffsbauch – und auf den Bug.

  • Wo der Bug ist, da ist vorne. Thomas Schmidt unterhält sich mit den Rucksacktouristen. © Horst Martens
    Wo der Bug ist, da ist vorne. Thomas Schmidt unterhält sich mit den Rucksacktouristen. © Horst Martens

Über geringe Nachfrage jetzt in der Trockenheit beklagen sie sich, dabei schien die Ladekapazität auf den Planken doch schon mehr als ausgeschöpft. „Etwa 50 Passagiere stehen heute auf der Liste, während der Regenzeit sind es bis zu 120.“ Leuchtet ein, nach ausgiebigen Regenfällen fällt die Alternative Landweg wegen Unpassierbarkeit ganz aus. Aber wo finden die Menschen dann noch Platz? Medina nuckelt am Tereré, Godoy lächelt und sagt: „Ein bisschen Platz ist immer.“

Neben uns sitzen die beiden „Rucksacktouristen“. Danny Mulder, 24, aus dem holländischen Utrecht, gibt sich als Anthropologe zu erkennen, der auf diesem Schiff Feldforschung betreibt. Thema seiner Promotion sind die emsigen Matrosen, die lakonischen Steuerleute, der Smutje und sein Gehilfe, die kamerascheuen Marktfrauen und die notorischen Stammgäste. Was für ein Leben führen sie, wie gehen sie miteinander um, was treibt sie immer wieder auf den Río Paraguay? Um Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu erforschen, macht er diese Tour schon zum 5. Mal. Dreieinhalb Tage rauf bis Bahía Negra, zweieinhalb Tage zurück bis Concepción. Mulder führt Marktfrau Juana als bestes Beispiel an, die einst schlechtbezahlte Kindergärtnerin war und dann auf die Idee kam, einen Marktstand auf der „Aquidabán“ zu eröffnen. Sie genießt keine Privilegien auf diesem Schiff, muss jedes Mal die für alle übliche Passage zahlen, ist die ganze Woche unterwegs und hat am Wochenende zwei Tage Zeit, um ihren Stand aufzufüllen. Nicht die Reiselust, eher der Zwang, Geld zu verdienen und eine Familie zu ernähren, bringt immer wieder die gleichen Leute zusammen. „Weil sie ihre Partner, Kinder, Eltern oder Freunde selten sehen, haben sie hier ihre eigenes Netz aus Beziehungen aufgebaut“, sagt der jugendliche Doktorand.

Die Flusshuren aus Buenos Aires

Stammkunden sind übrigens auch ein Dutzend Prostituierte, die sogar aus Buenos Aires den Paranáfluss hochkommen. „Sie haben es auf die Matrosen abgesehen, die auf den gigantischen Schubverbänden arbeiten, wenig Zeit zum Geldausgeben haben und lange Zeit keine Frau zu Gesicht bekommen.“ Und wenn sie schon auf dem Schiff sind, bieten die Flusshuren auch an Bord ihre Liebesdienste an, mal weniger, mal mehr diskret. Das hier ist eine ganz eigene Welt, ein beeindruckender Mikrokosmos.

Bierselig sagt Martin Dorfer aus dem österreichischen Vorarlberg, der auf einer deutschen „Granja“ (Bauernhof) bei Concepcion Au-Pair ist: „Peru hat den Machu Picchu, Argentinien den Tango, Brasilien die Iguazú-Fälle, aber Paraguay hat ein tolles Volk, die größte Sehenswürdigkeit.“

Das Bier läuft schnell durch, ein Gang zu den „Sanitarios“ ist fällig. Achtung, schlafende Passagiere! Sie haben sich überall breitgemacht, ein Mann liegt mit dem Kopf vor unserem Tresenhocker. Für paraguayische Verhältnisse sind die WCs durchaus akzeptabel, empfindliche Deutsche müssen sich schon überwinden. Als ich mir am Waschbecken die Hände säubern will, höre ich plötzlich ein lautes Plätschern. Ich drehe mich um und sehe, wie ein Mann an der Heckreling sein bestes Stück über eine Stange hält und seine Blase leert. Eigentlich wollte ich an dieser Stelle meine Angel reinwerfen. Den Piranhas, Surubís und Dorados wird`‘s freuen.

Der Gang ins Camarote wird durch einen spektakulären Ausblick belohnt. Fast lautlos gleitet das Schiff durch eine imposante, vom Mond beleuchtete Flusslandschaft. Das Gewässer scheint gefüllt mit Quecksilber, in dem sich leicht schaukelnd die Silhouette des Gran-Chaco-Ufers spiegelt. Das vor lauter Eindrücken wild bummernde Herz beruhigt sich bald und lässt uns wegdämmern. Doch der Schlaf ist nur von kurzer Dauer. Der Regen, der durch das glaslose Camarote-Fenster hereinfällt, hat schon die Hälfte der Matratzen genässt. Jetzt wird auch die Bedeutung des Klebestreifens an der Decke deutlich. Unaufhaltsam tropft es von oben, die Notreparatur des Vorgängers in dieser Kajüte hält nicht mehr dicht. Gut, das der Morgen naht.

  • Staubiges Inferno - die Anlegestelle der Kalkbrennerei. © Thomas Schmidt
    Staubiges Inferno - die Anlegestelle der Kalkbrennerei. © Thomas Schmidt

Ein Hauch Mordor

Während der Smutje die Paprika für die „Sopa Soyo“, eine Hackfleisch-Zwiebelsuppe, schneidet, rücken am Bug die Angaité die Persenning zurecht, um sich gegen den Nieselregen zu schützen. Die ostparaguayische Seite hat sich zu einem felsigen Steilufer gemausert. In dieser Gegend hat die Zement- und Kalksteinindustrie ihre Bastion. Die „Aquidabán“ legt an der größten der zahlreichen Kalkbrennereien an. Das felsige Ufer, die Anlegestelle, die Industriebauten mit dem lodernden Feuern am Hang – alles liegt unter einer weißgelben Staubdecke. Die apokalyptische Szenerie hat einen Touch von „Mordor“ , das böse Land in „Herr der Ringe“. Am Kai wird ein Frachtschiff beladen – Arbeiter karren Kalksäcke mit einer Schubkarre an und lassen die Last über eine Rutsche in den Schiffsbauch gleiten. An den Arbeitsmethoden scheint sich seit hundert Jahren nichts geändert zu haben.

Die Sonne bricht durch die Wolkendecke. In wenigen Minuten ist der Himmel kobaltblau. Kurz bevor wir unser Ziel erreichen, wollen wir noch den „Guiso“ (typischer Nudel-Fleischeintopf) von Humberto Panza goutieren, doch die Nachfrage fürs Mittagessen war größer als das Angebot. Also müssen ein paar „Empanadas“ und eine Guaraná (Limonade aus der Frucht einer Liane) unseren Hunger stillen. Vor uns tauchen die Kaianlagen aus Quebracho-Holz auf: Puerto Casado, benannt nach der spanisch-argentinischen Unternehmerfamilie Casado, die hier einst sechs Millionen Hektar Land besaß. In ihrer Fabrik produzierten sie die Gerbsäure Tannin, das aus dem roten Holz des Quebrachos gewonnen wurde. Als die Quebracho-Bäume seltener und Tannin nicht mehr gefragt wurde, gaben sie ihr Unternehmen in den 60-ern auf. Nach einem Zwischenspiel mit der Moon-Sekte, die sich hier niederließ, vegetiert Puerto Casado vor sich hin, die alten Fabrikgebäude verfallen, ein paar alte Casado-Arbeiter lassen die dampfbetriebene Schmalspurbahn noch mal schnaufen und hoffen auf Unterstützung von der Regierung.

1947 gingen an diesem Kai 2.000 Mennoniten von Bord, die wie viele andere Glaubensgeschwister von den Sowjets aus ihrer ukrainischen Heimat vertrieben wurden. Mit Ochsenkarren und Pferdekutschen wurden sie in den Busch des Gran Chacos gekarrt, wo sie ein blühendes Gemeinwesen errichteten. Unter ihnen war auch meine Mutter, ihre Geschichten kommen mir wieder in den Sinn. Es ist wie ein Deja-Vu, wie das Kolorieren von Schwarz-weiß-Fotos.

Zielort Puerto Casado erreicht. Fotograf Thomas Schmidt nimmt Abschied von der Aquidaban. © Horst Martens
Zielort Puerto Casado erreicht. Fotograf Thomas Schmidt nimmt Abschied von der Aquidaban. © Horst Martens

Wir gehen von Bord, weil wir die weißen Siedler besuchen wollen. Die anderen aber reisen weiter, zu Orten mit Namen Vallemí, Carmelo Peralta oder nach Bahía Negra, dem entlegensten Städtchen Paraguays. Dort, am fernen Ziel, winkt schon der exotisch-schöne Pantanal, das berühmte subtropische Sumpfgebiet. Aber keiner hat eine Exkursion im Sinn, Just for fun ist niemand unterwegs. Allenfalls der Au-pair aus Vorarlberg.

Text: Horst Martens
Fotos: Thomas Schmidt

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