Ein Tag auf einer Estancia: Reportage / Text: Horst Martens / Fotos: Thomas Schmidt
Hinter der Siedlungsgrenze liegen ein paar Indianerdörfer, dahinter breitet sich ein breiter Ring an „Estancias“, Viehfarmen, aus. Die Viehzuchtbetriebe orientieren sich an den Siedlungen, denn dort ist alles zu finden, was man landläufig unter Infrastruktur zusammenfasst: Supermarkt, Restaurant, Krankenhaus, Handwerksbetriebe – und die Asphaltstraße, die direkt nach Asunción und ins urbane Leben führt.
Der klapprige Subaru schwappt in ein Meer aus Pulverstaub. Die pudrige Masse dringt durch das löchrige Bodenblech, durch Ritzen und Löcher in unsere Nasen und Augen, schwebt auf Haar, Lippen, Haut. Wir fressen Staub. Die Luft vor uns hat sich eine dicke Wolke verwandelt, aufgewirbelt von einem Motorradfahrer, der uns gerade überholte. Die Sicht beträgt null Meter. Aber was soll schon geschehen: Kommt jemand von vorne, wird er sich wohl hoffentlich rechts halten. Kommt jemand von hinten, wird er uns wohl nicht gerade in dieser Puderstaubmulde überholen. So denkt man und weiß aus Hunderten Lagerfeuer-Geschichten, dass alles anders kommen kann.
Gerade haben wir das Siedlungsland der Weißen, die Colonias, verlassen. Eine Karte brauchen wir nicht, um uns vom Überschreiten der Grenze zu überzeugen. Der Straßenzustand sagt uns: Hier sind nicht mehr die Siedler zuständig, hier kommen die Straßenbauer nur selten hin.
Frische Criollos an der Krippe
An einem improvisierten Tor hängt ein Blechschild, das Viehtransporter das unerlaubte Einfahren in die Estancia „Pozo La Rubia“ verbietet. Und dann der unvermeidliche Hinweis, die Tore zu schließen, damit das Vieh nicht ausbüchsen kann. Rinder, die um eine Tränke stehen, wirbeln Staub auf. Als wir um elf Uhr auf dem Hof von „La Rubia“ einbiegen, haben die Peones schon fünf Stunden gearbeitet. Ihr Arbeitstag beginnt sehr früh. Was immer sie getan haben, die Pferde sehen noch frisch aus, die schmucken paraguayischen Criollos stehen noch an der Futterkrippe und weisen keinerlei Schweißspuren auf.
Adolfo Moreno, der Capataz, heißt uns willkommen. Als Verwalter muss er seinem Patrón gegenüber Rechenschaft ablegen, wenn der mal vorbeischaut, was selten genug passiert. Moreno betreut ein eher kleines Anwesen, wie es sie hier zuhauf gibt. Typisch: Die Herrschaften leben in Asunción und kommen alle paar Monate vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Moreno, dunkles, fleischiges Gesicht, trägt einen breitrandigen, geriffelten, blauen Textilhut, außerdem ein blaues, eingerissenes T-Shirt, sowie dickledrige Reithosen und einfache Stiefeln, deren Originalfarbe man vor Staub und Kratzern nicht erkennt. Er ist 53 Jahre alt und auf einer Ranch in der Nähe der Hafenstadt Puerto Pinasco aufgewachsen. Dort beherrschte zu seiner Zeit noch die Tanninfabrik die Umgebung, aber Moreno war von Anfang an Landmensch: „Ich bin auf dem Land geboren. Daher gefällt mir das Leben auf dem Campo.“ Seine große Familie – eine Frau und sieben Kinder im Alter von sieben bis 27 Jahren – lebt 300 Kilometer weit in Concepción. Menschen wie ihn trifft man hier viele. Sie kommen zumeist aus dem bevölkerungsreichen Osten des Landes und idealisieren das Landleben, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Die Trennung von ihrer Familie akzeptieren sie klaglos und wie selbstverständlich.
Der erst Schluck schmeckt bitter
Der Capataz lässt den Vormittag Revue passieren. „Schon um vier Uhr stehen wir auf“, berichtet er. Dann versammeln sich alle, der Capataz, die Peones, die Köchin, und trinken Mate. Auf der „Veranda“ der Peones-Hütte wird ein Feuerchen aus Palosanto-Holz angefacht. Auf der glühenden Kohle steht ein Kesselchen, rußgeschwärzt von den Materunden vieler Jahre. Nach etwa zehn Minuten fängt das Wasser im Kesselchen an zu singen, der „Mozo“, der Servierer, häufig der jüngste in der Runde, gießt den ersten Tee auf: In einer Kalebasse steckt die „Bombilla“, das Saugröhrchen mit Sieb, in etwa acht Zentimeter Matetee. Die erste Kalebasse schmeckt noch bitter, weshalb der „Mozo“ den ersten Schluck, eine grüne Flüssigkeit, in hohem Bogen ausspuckt. Zufrieden nimmt er aber wahr, dass das Wasser noch nicht gekocht, sondern nur „gesungen“ hat und damit genau die richtige Temperatur erlangt hat.
So früh am Morgen sind alle wortkarg. Für kuschelige Stimmung sorgen argentinische Chamamés aus einem alten Transistorradio, dessen Gebrauchsspuren die Senderskala nur erahnen lassen. Chamamé ist pure Nostalgie und lädt zum Träumen ein.
¿Te acordás, mi chinita,
del puente Pexoa donde te besé?”
„Erinnerst du dich, Liebste,
an die Brücke Pexoa, auf der ich dich küsste?“
Seelenschmalz für die Hirten
Das ist Seelenschmalz für die abgehärteten Peones, die, wie wir später erfahren, alle aus dem Osten Paraguays stammen und dort ihre Liebste und ihre Familie haben. Die Frau des Hauses ruft, das Frühstück ist fertig. Über Müsli würden die Peones milde lächeln, Nutella wäre etwas für Weicheier. Wer ein richtiger Gaucho sein will, beginnt den Tag mit Guiso, dem obligatorischen Gulasch-Tomaten-Nudel-Eintopf. Die Köchin zeigt eine erlegte Gato Onza. Peón Isidoro hat die Wildkatze angeblich mit dem Knüppel erlegt und ihm schon das wertvolle Fell abgezogen. „Das ist das Mittagessen“, deutet die Doña feixend an und die Angestellten grinsen, weil die ausländischen Besucher verdattert gucken.
Als Moreno von unserem Foto-Vorhaben erfährt, geht er ins Haus – ein flacher Bau, eine Kombination aus weißen Holzbretter- und Backsteinwänden, umgeben von einer beschatteten Veranda – um die Peones, die gerade eine Pause eingelegt haben, zu holen. Kurze Zeit später kommen die Männer gut aufgelegt herausgestürmt und laufen zu ihren Pferden, um sie für das Fotoshooting in Position zu bringen.
Sie legen Guardamontes (Lederschutz für die Beine), Reithosen und die gestreiften Buschjacken aus festen Leinen an. Dann werden die Pferde gesattelt: Was auf keinem Ausritt fehlen darf: die Gualí, eine Doppeltasche aus dicken Leinen, die so über den Sattel gelegt wird, dass über einem jeden Ende ein Beutel hängt – auf der einen Seite Guampa und Bombilla, auf der anderen der Mate-Tee.
„Großer Fuß“ und „rote Eidechse“
Breitwillig machen die Peones alles mit, was der Fotograf ihnen vorgibt. Sie scherzen, lachen, sind wie aufgedreht. Für sie ist das Fotoshooting eine willkommene Abwechslung in ihrem eintönigen Alltag. Danach setzen sich drei von ihnen mit uns unter das Schattendach des kleinen Stalls, das gleichzeitig Garage für einen derangierten Jeep und Nachtlager der Arbeiter ist. Alle drei haben neben ihren spanischen Namen auch noch einen Spitznamen in Guaraní: Alejandro Andres heißt Chopy, was Vogel heißt. Zu verdanken hat er diese Bezeichnung seiner ausgeprägten Nase. Aldo Isidoro ist unter Pypa – großer Fuß – bekannt, was nicht erklärt werden muss, und Victoriano Gomez wird mit „Tejú pyta“, rote Eidechse gehänselt, weil seine Haare ins Rötliche scheinen.
Fast jeder Tag läuft nach gleichem Muster ab: „Wir satteln die Pferde und reiten aus, um Tiere und Zäune zu kontrollieren.“ 2.300 Hektar hat die Weide, auf der 2.700 Kühe grasen, eine eher kleinere Estancia, auf der es allerdings vieles zu beobachten gibt: Hoch am Himmel kreisende Aasgeier zeigen schon aus der Ferne an, dass ein Rind gestorben ist. Welches ist der Grund für den plötzlichen Tod? Dann nehmen die Reiter die Kühe unter die Lupe, die kalben könnten. Ist ein Kälbchen geboren worden, nisten sich leicht Maden am noch nicht verheilten Nabel ein, deshalb müssen Neugeburten besonders sorgfältig beobachtet werden. Nachts hat man einen Puma schreien gehört – hat er schon ein Tier gerissen? Wie sieht es aus mit den Wasserstellen? Wenn sie leer sind, muss Wasser aus den Brunnen gepumpt werden. Die Weideflächen sind in „Cercados“ eingeteilt – wenn eine Fenz abgegrast wurde, ist die nächste dran.
Wenn sie Mittags müde zurück kommen, serviert die Köchin Puchero (Fleisch-Suppe). Ob tatsächlich die Wildkatze im Topf gelandet ist? Dann machen sie die obligatorische Siesta. Sie ruhen sich auf einer Catre aus, einem Feldbett aus Rindlederriemen. Nachmittags geht es wieder aufs Pferd.
Und abends wieder Guiso
Und abends empfängt die Köchin sie wieder mit einem Guiso – nicht gerade abwechslungsreich, der Küchenzettel, aber sie sind es nicht anders gewöhnt. Nach dem Abendessen setzen sie sich ein wenig hin, beobachten das Abflauen des Abendrots und das Aufflackern der ersten Sterne. Sie muntern sich gegenseitig mit Geschichten aus ihrer Kindheit auf – und dann ist der Tag zu Ende: „Um neun Uhr gehen wir ins Bett“, sagt „Vogel“ Andrés. Mangels elektrischer Beleuchtung haben sie noch nicht mal die Chance, die Pin-up-Girls zu betrachten, die sie an die unbearbeiteten Bretter ihrer Holzwand, an der ihr Bett steht, angepinnt haben: Bikinischönheiten, Schönheitsköniginnen, Beautys aus der Rubrik „Sociales“ in der „abc color“.
Die Koje besteht aus einem sehr einfachen Raum. Über dem Bett hängt ein Moskitero. Wenn sie aus dem Fenster blicken, sehen sie einen klaren Himmel. Hin und wieder zieht ein Satellit seine Bahn. Man könnte sich noch Geschichten erzählen, von der Braut, die an sie denkt, jenseits des Río Paraguay, aber eigentlich ist man müde, man schließt die Augen und schläft ein.
Pedrito grüßt Ana María
So geht es Tag für Tag. „Das Leben ist ausschließlich Arbeit“, sagt Moreno. Dennoch gibt es Lichtblicke. Das Wochenende gibt die Möglichkeit, durchzuatmen. Sonntag ist frei. „Wir waschen unsere Wäsche, genehmigen uns einen Schluck ‚Aristócrata`, hören Radio Paí Pucú.“ Beim Sender läuft ein Grußprogramm: Pedrito García grüßt Ana María; Arturo kommt erst in zwei Wochen zu Besuch; Ana María bleibt noch vier Tage bei ihrer Mutter; Antonio wünscht für seine Liebste das Lied „Una noche tibia“. Was sie sonst noch in ihrer Freizeit tun: „Wir schauen den Mond und die Sonne an“, sagt „Chopy“ Alejandro.
Die drei Vaqueros wissen, was Einsamkeit ist. Sie kommen alle aus Ostparaguay, ihre Familien und „novias“ leben in San Pedro, Canendiyú oder Caazapá. „Hier in der Gegend sind Peones rar“, sagt Moreno, „und deshalb ist die Fluktuation auch groß“.
Manchmal reiten sie zur Estancia des „Curepa“. Curepa bedeutet Wildschwein-Leder, so werden Argentinier gehässig bezeichnet. Beim Argentinier spielen sie Fußball und Volleyball. Bisweilen organisiert der Nachbar Argentinier auch einen Tanzabend. Dann bewegen sie sich zum Corrido. Nur ganz selten finden Pferderennen statt. Dann geht es richtig heiß her. Wenn der Tag weit fortgeschritten ist, die Caña in Strömen geflossen ist, kann es schon mal zu Streitigkeiten kommen, die mit der Pistole bereinigt werden.
Eine willkommene Abwechslung in der Routine des Alltags ist die jährliche „Marcación“. Der Tag, an dem alle Rinder der Farm zusammen getrieben und die Jährlinge per Brandeisen markiert werden, ist immer ein richtiges Volksfest. Die Peones können zeigen, wie geschickt sie mit dem Lasso oder mit dem Messer umgehen konnten, wie gehorsam die Hunde mitmachten, wie gut ihre Pferde dressiert waren. Sie verwandelten ihre Arbeit in eine unterhaltsame Show, an der sich die ganze Nachbarschaft beteiligte.
Beliebte Reiterspiele
Sehr beliebt waren Reiterspiele, bei dem Pferde zugeritten wurden. Wer kann sich am längsten im Sattel halten, wer übersteht die Sprünge und Abwurfbemühungen des Pferdes? Oder die Pialada, bei der es darum geht, die Ochsen mitten im Lauf zu Fall zu bringen, indem man ihnen das Lasso zwischen die Beine wirft. Oder das Coleo, bei der zwei Vaqueros sich die Aufgabe teilen: Der eine wirft das Lasso um den Hals, der andere greift den Schwanz und versucht, den Ochsen aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Aber heute werden die Installationen so gebaut, dass vieles automatisch abläuft. Häufig übergeben Estancia-Besitzer die kompletten Arbeiten einer Service-Firma. Auch die Firma stellt Peones ein, aber die persönliche Beziehung zu Mensch und Tieren geht verloren.
In der kommerzialisierten Viehzucht werden die Rinder so behutsam wie möglich behandelt. „Die Deutschen wollen ruhiges Fleisch essen“, sagt Choguy, und alle lachen. „Ja“, sagt der Capataz, „man hat uns gesagt, dass die Rinder in ihrem Leben so wenig Stress wie möglich haben dürfen, nur dann ist das Fleisch wirklich gut und erzielt gute Preise.“ „Pypa“ bringt den Spruch des Tages: „Der Bulle hat es besser als wir, er kann sich jeden Tag eine andere aussuchen“.
Alle lachen. Dieser Tag war mal was anderes. Eine willkommene Abwechslung in der Routine des Alltags. „Ihr könnt bald wieder kommen“, sagen der Capataz und seine Viehhirten.