Fußball in Paraguay – von Horst Martens (Text) und Thomas Schmidt (Fotos)
Paraguays Kicker: Im Staub lernen, von Europa träumen
Sonntagmorgen in Cayin-o-Clim, einem Indianerdorf des Nivaclé-Volkes im knackig heißen Chaco. Aus den weit geöffneten Fenstern der schlichten Backsteinkirche erklingt „Großer Gott wir loben dich“. Das in der Ureinwohnersprache gesungene Kirchenlied schallt bis auf den staubigen Sandplatz etwa 200 Meter weiter, auf dem die Kinder Fußball spielen.
Das Leder war vor vielen Jahren wohl ein richtiger Ball, das Spielfeld ein Gemüseacker. Eine zentimeterdicke Staubschicht dämpft die Schlaglöcher. Begeistert laufen vier- bis zwölfjährige Mädchen und Jungen der Pelota hinterher. Zwischendurch kommt ein zweiter Ball ins Spiel, was niemanden stört. Wie überall auf der Welt muss das Runde ins Viereckige. Und alle schreien: „Gooool!“
„Sobald die Kleinen auf zwei Füßen stehen können, laufen sie schon jeder Kugel hinterher“, beschreibt Gerardo Cano, Journalist des lokalen Senders „Die Stimme des Chaco“, die Begeisterung der Ureinwohner für den Fútbol. Weil der Nachwuchs gern die Schule schwänzt und die Eltern auf ihre Zöglinge keinen Druck ausüben, haben sich Staat, lokale Behörden und der paraguayische Fußballverband einen Trick ausgedacht. Mit der „Escuela de Fútbol“, der Fußballschule, die direkt der Grundschule angeschlossen ist, versuchen sie, die Knirpse auf die Schulbank zu bekommen. „Die Sportlehrer trainieren mit den kleinen Futbolistas und nehmen sie mit zu Turnieren, die sie bis weit hinter die Hauptstadt Asunción bringen, dahin, wo sie sonst nie hinkämen,“ sagt der Journalist.
Die Indianer von „Campo Largo“
High Noon in „Campo Largo“, einem Dorf der Enlhet-Indianer. Ein Traktor zieht einen mit Fußballfans beladenen Anhänger durch das Staubmeer. In einer Stunde ist Anpfiff. „Fußball ist für die Indianer der Sport Nummer eins“, sagt Cano, dessen Sender die Spiele live überträgt. „Das erkennt man auch daran, dass die Cancha, das Fußballfeld, meistens der Dorfplatz ist.“ 20 Indianervereine sind der Liga Deportiva Aborígenes del Chaco Central angeschlossen. Sie heißen wie die Großen in Asunción, nämlich Olimpia, Libertad und Guaraní. Oder 15 de Agosto – hier dient ein historisches Datum als Namensgeber, denn am 15. August 1537 wurde die Hauptstadt Asunción gegründet.Trotz Schlaglöchern und Stoppelgrasfeld – mit dem Ball können sie fabelhaft umgehen. In der Glut der Mittagshitze – die Temperaturen klettern auf über 40 Grad – entwickeln Nivaclé, Enlhet oder Guaraní ihre schönsten Spielzüge. „Leider hängt ihre Leistung stark von ihren Emotionen ab“, sagt der Journalist Cano, „sie sind sehr sensibel.“
Eine Mannschaft kann über sich hinaus wachsen, aber im nächsten Spiel wieder eine grottenschlechte Performance abliefern. Jede Fußballsaison in der kargen Dornenbusch-Landschaft bringt neue Ausnahmekönner hervor. Spielervermittler aus der Landeshauptstadt umwerben die Talente: „Die Chaco-Helden werden mit tollen Versprechen in die Hauptstadt Asunción gelockt“, sagt Cano. „Die Vereine nehmen die indianischen Dribbel-Künstler unter Vertrag und stellen sogar ein Appartement zur Verfügung. So viel Geld haben die Stoppelfeld-Künstler noch nie gesehen – aber nach einem Monat sind sie wieder zurück im Chaco.“
Ohne ihren Clan und die gewohnte Umgebung zerbrechen die „Aborígenes“ (Sammelbegriff für die Ureinwohner) an dem hektischen Großstadtleben. Und dennoch träumen schon die Kleinen dank der Satellitenschüsseln, die ihnen die Champions League frei Hütte liefern, vom fernen Kontinent Europa: „Das muss das Paradies für Fußballer sein“, mutmaßen sie. Sie kaufen sich die teuren Trikots der internationalen Helden und heißen nun nicht mehr – wie noch ihre Großeltern – „Schwarze Habichtfeder“, „Jaguartöter“ oder „Der, der morgens immer so lange schläft“, sondern Ronaldo, Diego und Roque.
Die Profis von Asunción
Europas Vereinsfußball ist für sie das Höchste der Gefühle. Das gilt auch für Paraguays Profis 500 Kilometer weiter südlich in der Hauptstadt Asunción: Jungstar Rodrigo Rojas von Rekordmeister „Olimpia“ stellt eine klare Rangfolge auf, als wir ihn nach einer Trainingseinheit in der „Villa Olimpia“ befragen: „Zuerst möchte ich Campeón mit dem Verein werden, dann für die Selección, die Nationalmannschaft, spielen und schließlich ins Ausland gehen. Am liebsten nach England, zur Premier League.“
Gegen den derzeit stärksten Verein „Libertad“ am Wochenende war Rojas der auffälligste Spieler. Auf dem wendigen Mittelfeldspieler ruhen nun die Hoffnungen der aficionados, der Fans. Seit ein paar Jahren hat ihr Lieblingsclub Olimpia, der „König der Pokale“, nichts mehr abgestaubt: Der Verein mit dem schwarzen Querstreifen gewann dreimal die Copa Libertadores (Südamerika-Cup) und einmal den Weltcup, aber das ist länger her.
Wir beobachten das Training bei Olimpia zusammen mit sechs Kamera-Teams und Dutzenden von Radio-Reportern. Gesucht wird: die Schlagzeile des Tages. Vom Trainer gibt’s nichts Neues, auch der Masseur weiß nichts beizutragen, jetzt fragen die heimischen Berichterstatter sich, was die zwei deutschen Journalisten auf dem Gelände verloren haben. Als die Alemanes auch noch den Jungstar Rojas abfangen, steht für die Pressemeute fest: Die Bundesliga will den Olimpista – und der hofft ein wenig, dass es so ist.
Von Olimpia zu Weitmar 09
„Alle paraguayischen Spieler träumen von einer Karriere in Europa“, sagt Dr. Osvaldo Pangrazio. „Und es ist völlig legitim und verständlich.“ Der Arzt empfängt uns in seinem Sprechzimmer in einer Chirurgie-Klinik im Zentrum von Asunción. Auf seinem weißen Arztkittel steht „Bergmannsheil Bochum“. Im Ruhrgebiet hat er sich zum Traumatologen weiterbilden lassen, nachdem er seine Fußballkarriere bei Olimpia und sein Medizinstudium beendet hat. In Bochum kickte er ein paar Wochen bei der SG Wattenscheid und später – als Freizeitausgleich – beim SV Weitmar 09. Heute ist der 52-Jährige Chef der Medizin-Abteilung der Nationalmannschaft – neben seinem Zweit-Job als Chirurg.
Der Mediziner weiß, warum alle paraguayischen Spieler wie hypnotisiert auf den alten Kontinent blicken: „Die Kicker von Olimpia verdienen im Durchschnitt 5.000 Dollar monatlich. Eine Arbeitslosenversicherung oder eine Rente wie in Deutschland gibt es nicht. Wenn die Fußballer es ins Ausland schaffen, dort gut verdienen und gut sparen, dann können sie nachher davon leben. Aber es sind nur die Ausnahmen.“
Bis nach Europa hat es José María „Tiganá“ Rolón auch nicht geschafft. Aber immerhin ins Ausland. Mit „Guaraní“ wurde er 1996 in Paraguay Meister, danach spielte er in Chile in der zweiten Liga und beim Erstligisten „Real España“ in Honduras. Jetzt verdient er sein Geld als Taxifahrer. Er fährt uns mit seinem gelben Wagen zum südamerikanischen Fußball-Museum, einen Prachtbau, den der Südamerikanische Fußball-Präsident Nicolás Leoz, ein Paraguayer, an der Avenue zum Flughafen errichten ließ. Nach vielen Jahren als Profi nennt der 38-Jährige Rolón immerhin ein Taxi sein eigen, das Auto ist auch in einem viel besseren Zustand als die Schrottkarren seiner Kollegen.
„Tiganá“, der Spitzname in Anlehnung an den französischen Spieler und Trainer hat seine Berechtigung, spricht mit Leidenschaft von seinem Lieblingssport. Er ist Jugendtrainer der Sub-13 beim Zweitligisten „Silvio Pettirossi“ und schwadroniert über die Aufgaben eines Trainers. „Schon die Kinder müssen die ‚visión periférica‘, die Rundumsicht, lernen.“ Und die Disziplin: „Ich kann nicht Tereré trinken und gleichzeitig arbeiten“, sagt er, auf die größte Leidenschaft der Paraguayer, den Genuss von Mate-Tee, anspielend. Die Nachwuchsarbeit in Paraguay gilt als vorbildlich in Lateinamerika – dank Menschen wie Rolón und systematischer Förderarbeit durch den Landesverband APF.
Don Nicolás ist der Größte
Viele Jahre waren Paraguays Chancen, am Mundial, der WM, teilzunehmen, nur gering. Die Albiroja (die Weiß-Rote) wurde in der Qualifikation entweder von Brasilien oder Argentinien eliminiert. Dann wurde 1986 Leoz Präsident des Kontinental-Verbandes Conmebol und verlegte dessen Sitz nach Paraguay. Der Ausscheidungs-Modus wurde geändert – jeder spielt gegen jeden – und seit 1998 ist Paraguay ununterbrochen dabei. Im ultramodernen Fußball-Museum an der Ausfallstraße neben dem Conmebol-Hochhaus lässt Leoz sich und den Kontinent feiern. Dass er mal in eine Schmiergeld-Affäre der Fifa geriet, stört hier keinen. Auch den Taxifahrer und Ex-Profi Rolón nicht: „Für die Paraguayer ist Don Nicolás der Größte, denn er hat der Albiroja den Rang eingeräumt, den sie verdient.“
Paraguay leidet chronisch an Korruption und sozialer Ungleichheit. „Fußball ist das Einzige, womit wir wirklich Werbung für unser Land machen können“, sagt Pangrazio. Die Großplakate an der Ausfallstraße künden davon – immer steht die Selección im Fokus.
In der südamerikanischen Fußballwelt werden Paraguays Nationalspieler auch die „Guaraníes“ genannt. Die Urtugenden der Mannschaft sind als Garra Guaraní, „Kralle der Guaraní-Indianer“, bekannt und beziehen sich auf ihr indianisches Erbe. „Auf die Garra Guaraní können wir stolz sein – das ist Aggressivität, Temperament und gute Technik“, doziert Doktor Pangrazio.
Die Vorfahren der Guaraní-Indianer gehörten vor 400 Jahren dem Volk gleichen Namens an. Noch heute sprechen fast alle Einwohner die Indianersprache. Natürlich auch die Futbolistas auf dem Spielfeld – wo ihre Gegner aus Lateinamerika dann nur Spanisch verstehen.
„Paraguay hat viele Talente“
Im Ausland haben die Paraguayos Startschwierigkeiten. „Nicht ganz so schlimm wie die Indianer, die in die Großstadt kommen – aber vergleichbar: Paraguayische Spieler in Europa leiden extrem an Heimweh“, sagt Pangrazio. „Sie kommen aus einem ganz anderen Kulturkreis.“ Was für die Guaraníes ganz ungewohnt ist: die europäische Konzentration auf die Kleinfamilie. Vater, Mutter und Kind – das praktiziert zu Hause nur die Mittelschicht, die Spieler hingegen sind zumeist in Großfamilien aufgewachsen. Mit dem europäischen Individualismus kommen sie nicht zu Rande. „Sie brauchen bis zu zwei Jahre, um sich einzuleben.“ Und schaffen es zumeist auch erst, nachdem sie ihren Clan über den Atlantik geholt haben. Zudem müssen Fußball-Migranten sich an das hohe Tempo der Top-Ligen anpassen. „Die brauchen viel Zeit“, betont der Arzt.
Osvaldo Pangrazio weiß wovon er spricht, denn er „importierte“, als er Vereinsarzt bei Olimpia war, den ersten paraguayischen Spieler nach Deutschland – Roque Santa Cruz. Im Sprechzimmer der Klinik stehen Aufnahmen, die Pangrazio mit Hoeneß, Rummenigge und dem „Kaiser“ zeigen: „Ich habe sehr gute Beziehungen zu Beckenbauer“, freut sich Pangrazio. Die Späher von Bayern München rufen den Fußball-Kenner aus Asunción häufig an und fragen: Gibt es einen Spieler, den wir uns mal anschauen sollten? Und dann antwortet Pangrazio: „Einen? Paraguay hat viele Talente.“